Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schlafwandler

Schlafwandler

Titel: Schlafwandler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
Vom Netzwerk:
ein
Märchenland verwandelt worden. Die Kronleuchter und die
Emporen waren weißer als die Straßen draußen vom
Schnee. Kraus senkte den Kopf und mischte sich unter die
Käuferschar. Die klappernden Rolltreppen ächzten unter
der Last der Horden von Hausfrauen, die mit Einkaufstaschen
behängt waren. Als er sich umsah, bemerkte er, dass er einer
der wenigen Männer in dieser Abteilung war, und zog den Kopf
noch tiefer zwischen die Schultern. Kurz bevor er die erste Etage
erreicht hatte, überlief es ihn kalt. »Haltet den
Dieb!« Mengele stürmte, flankiert von zwei
SS-Männern, zu den Rolltreppen.
    Er drängte sich
zwischen zwei Matronen hindurch, was ihm einen deftigen Schlag mit
einer Handtasche auf den Kopf einbrachte. »So was! In all den
Jahren, die ich hier einkaufe …!« Ein
rachsüchtiger Schrei gellte in seinen Ohren. Als er die
Abteilungen Damenunterwäsche im ersten Stock und
Männerunterwäsche im zweiten passierte, behinderte
ähnlicher Widerstand sein Weiterkommen. Dazu Schläge und
Tritte. Allerdings hatten seine Verfolger offenbar ebenfalls nicht
mehr Glück bei diesen Kaufwütigen, denn als er die
Kinderwelt im dritten Stock erreichte, konnte er Mengele kaum noch
hören. Dafür hörten ihn jedoch zwei uniformierte
Sicherheitsleute des Kaufhauses und nahmen die Verfolgung auf.
Kraus war in Schweiß gebadet. Er kam sich vor wie ein Fuchs
in der Hecke. Das Warenhaus hatte nur sechs Etagen.
    Als er von der
Rolltreppe in die von Menschen wimmelnden Gänge der vierten
Etage sprang – Küchengeräte und Haushaltsartikel
–, rief eine uralte Stimme in ihm: Versteck dich! Tauch zwischen die
Behälter mit Silberbesteck oder unter die Tische mit eisernen
Kasserollen. Verbirg dich zwischen den Geschirrhandtüchern
oder den Regalen mit diesen verblüffenden, neuen, elektrischen
Kaffeetöpfen. Wo auch immer, Hauptsache, du verschwindest!
Aber eine andere Stimme in ihm widersetzte sich. Warum sollte er
sich verstecken? Wilde Wut packte ihn. Was hatte er getan, dass er
sich verbergen musste? Er beäugte die Wand mit den
glänzenden Küchenmessern. Irgendwann kam der Punkt, an
dem man sich zur Wehr setzen musste. War es nicht so? Er schnappte
sich das größte Messer, das er sah, ein fast einen Meter
langes Hackbeil, und schwor sich, dass er Mengele mitnehmen
würde, wenn er gehen musste. Versteck dich vor den
Sicherheitsleuten, warte auf den Mistkerl, und dann – mit
einem schnellen Schlag – trennst du ihm den Kopf vom Rumpf.
Für Paula! Für die achthundertfünfzig Menschen von
der Anstaltsinsel. Schwitzend umklammerte Kraus das Hackbeil und
stellte sich vor, wie Mengeles Blut über die Pyramide von
hölzernen Salatschüsseln spritzte und sein Kopf die
Rolltreppe hinunterpolterte. Verdient hatte er es. Oder? Hatten sie
es nicht alle verdient? Was für ein Vergnügen es ihm
bereiten würde, zu sehen, wie sich ihre Körper im
Todeskampf auf dem Boden wanden! Nein?
    Doch als die
Sicherheitsleute auftauchten und sich ihm näherten, wich Kraus
langsam zurück. Wenn du entkommst, Willi, fragte ihn sein
Gewissen, könntest du mit dir selbst leben? Wenn du diesen
eiskalten, gemeinen Mörder einfach umlegst? Hat nicht selbst
ein Ungeheuer wie Mengele Gerechtigkeit verdient, wie jeder
Kriminelle?
    Kraus ließ das
Hackbeil fallen und rannte in Richtung Aufzug zurück. Mengeles
Stimme war wieder laut und deutlich zu hören. »Haltet
den Dieb!« Die Kaufhauswachen waren nur ein paar Schritte
hinter Kraus, als er in die Möbelabteilung im fünften
Stock abbog. Das war das Ende der Fahnenstange. Vicki und er hatten
sich hier ihr Schlafzimmer gekauft. Er sah noch, wie sie auf der
Matratze saß und sie mit ihren weichen, weißen
Händen abtastete. »Ich liebe sie, Willi. Wir werden so
wunderbar darauf schlafen.« Seine Mutter hatte ihre Sessel
hier aufpolstern lassen. »So gut wie neu!« Wo zum
Teufel war die Feuertreppe? Die Gänge wurden von korpulenten
Frauen verstopft, die keinen Zentimeter weichen wollten. »Wie
können Sie es wagen!«
»Unverschämtheit!« »Keine Manieren.«
Die Wachen kamen näher. »Sicherheitsdienst! Lassen Sie
uns durch!« Wenn ihm nicht bald etwas einfiel, dann
würden sie ihn schnappen. Kraus sprang vom Boden auf einen
Kaffeetisch, von dort auf ein Sofa, weiter auf eine Ottomane, auf
ein Doppelbett und ein Zweiersofa und gelangte so quer durch den
Raum. Verkäufer versuchten ihn aufzuhalten. »Mein Herr,
das ist streng verboten!« Kundinnen kreischten. »Er ist
betrunken!« Die Sicherheitsleute

Weitere Kostenlose Bücher