Schlafwandler
Minister die Tür geöffnet habe, sah ich sie
in Richtung S-Bahn gehen, allein, in diesem Leopardenmantel und
ohne Hut.«
»Hat sie Ihnen
gesagt, wohin sie mit der S-Bahn fahren wollte?« Kraus fand
die Geschichte erstaunlich. »Denken Sie nach, Rudy. Das ist
sehr wichtig.«
»Ja,
tatsächlich.« Seine Augen weiteten sich, als er sich
erinnerte. »Sie hat es mir gesagt. Sie sagte: ›Wo
fährt die nächste S-Bahn nach
Spandau?‹«
»Spandau?«
Ein Frösteln durchlief Kraus. »Sind Sie
sicher?«
»Ja, ziemlich
sicher. Ich weiß noch, dass ich mich gefragt habe, ob die
S-Bahn Friedrichstraße überhaupt nach Spandau
fährt.«
Kraus erinnerte sich
an die Station, die er am Morgen gesehen hatte.
Eine Sekunde lang war
er sprachlos. Konnte das ein Zufall sein? Er warf einen Blick auf
seine Uhr. Es war fast neun. Trotz seiner Erschöpfung gab es
nur eines, was er tun konnte. Er würde wieder nach Spandau
fahren. Diesmal mit der S-Bahn.
VIER
Obwohl er beinahe
sechsunddreißig war und sein ganzes Leben hier verbracht
hatte, kam es Kraus immer noch wie eine Fahrt auf einem fliegenden
Teppich vor, mit der Hochbahn durch die Hauptstadt zu fahren. Die
Landschaft war faszinierend. Dieses riesige Berlin, nach
europäischen Maßstäben gemessen noch recht jung,
kaum ein Jahrhundert alt, war das Chicago Europas; ehrgeizig,
arrogant und immer unterwegs. Wohin unterwegs jedoch, davon hatten
die vier Millionen Berliner und er selbst keine Ahnung.
Von der
Friedrichstraße aus flogen sie an der Spree vorbei, an der
großen Glaskuppel des Reichstags. Nachdem sie den Tiergarten
passiert hatte – den großen Park der Metropole –,
ratterte die Hochbahn an zahllosen hübschen Wohnblocks vorbei
und bot ihren Passagieren unvergleichliche Einblicke in das Leben
all der Bewohner, die ihre Vorhänge nicht zugezogen hatten.
Szenen häuslichen Friedens flogen an Kraus’ Blicken
vorbei. Familien, die Radio hörten, sich um Pianos versammelt
hatten und Weihnachtsbäume schmückten.
Je weiter sie nach
Nordwesten kamen, desto schäbiger wurden die Gebäude und
desto trauriger auch die Bilder, die sie boten. Hagere Hausfrauen,
die über Bügelbretter gebeugt standen. Väter in
Unterhemden, die ihre Kinder ohrfeigten. Als der Zug in einer Kurve
neben einem riesigen Kaufhaus langsamer wurde, sah Kraus durch die
großen, von Rissen durchzogenen Fenster, dass man es zu einem
Schlafsaal für Obdachlose umfunktioniert hatte. Hunderte von
Männern lebten darin.
Als sie die neue
Siedlung erreichten, die von Siemens gebaut worden war, leerte sich
der Waggon. Vielleicht waren an einem Samstagabend mehr Passagiere
im Zug, dachte Kraus. Aber alles in allem musste es eine recht
einsame Fahrt für die Prinzessin gewesen sein. Warum hatte sie
diese Fahrt unternommen? Was konnte sie dazu getrieben haben? Wohin
war sie gegangen, als sie die Haltestelle erreicht hatte? Eine
Dreiviertelstunde, nachdem die Hochbahn den Bahnhof
Friedrichstraße verlassen hatte, kam sie quietschend in
Alt-Spandau zum Stehen. Es war die Endhaltestelle.
Kraus ging die Treppe
zur Straße herunter, Dunkelheit umfing ihn. Nach den Lichtern
von Berlin-Mitte brauchten seine Augen stets eine Weile, bis sie
sich auf die Dämmerung im Rest der Welt eingestellt hatten.
Eine einzelne Lichtquelle erregte seine Aufmerksamkeit. Sie lag
direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite. Es war
die Gaststätte, die ihm schon am Morgen aufgefallen war, mit
dem Biergarten und der Hakenkreuzfahne über der Tür. Sie
nannte sich Zum Schwarzen
Hirsch .
Wenn nicht jemand an der Haltestelle gewartet und sie abgeholt
hatte, war die Prinzessin vermutlich dorthin gegangen. Es gab sonst
einfach nichts anderes. Also machte sich Kraus ebenfalls auf den
Weg dorthin.
Er holte tief Luft,
ging unter der Nazi-Fahne hindurch und betrat das Restaurant. Die
etwa zwanzig Tische in dem großen, holzgetäfelten
Schankraum waren etwa zu einem Drittel besetzt. An der Kasse
saß die vollbusige Besitzerin, die wohl um die fünfzig
Jahre alt sein mochte, und blätterte Rechnungen durch. Sie war
blond, schielte leicht und fragte Kraus, was sie ihm bringen
könne. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, wann und wie seine
Kripomarke ihm nützlich sein konnte. Manchmal, so wie jetzt,
ahnte er, dass es besser war, sie zurückzuhalten.
»Ich suche nach
einer Freundin. Einer Frau. Ich frage mich, ob sie vielleicht
gestern Nacht hier gewesen ist.«
Die schielenden Augen
musterten ihn argwöhnisch.
»Was sind Sie
denn? Ein
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