Schlafwandler
im
Gloria-Palast gewesen, Berlins berühmtestem Lichtspieltheater,
und hatte sich dort Marlene Dietrichs neuesten Hollywood-Film
angesehen. Sie war so magisch wie immer gewesen, doch die Zuschauer
hatten entsetzt reagiert. Sie fingen an, schreiend aus dem
Filmtheater zu rennen. Kraus sah genauer hin und bemerkte, dass die
Beine des großen Stars monströs waren. Sie waren von
innen nach außen gestülpt! Statt über die Leinwand
zu schreiten, humpelte sie, und ihr Körper wurde in jeder
Szene schlimmer verstümmelt.
Als Kraus im
Polizeipräsidium eintraf, befand er sich immer noch in einem
Zustand hellwacher Erschöpfung und stellte überrascht
fest, dass Gunther bereits in seinem Büro wartete. Ruta
servierte pfeifend frischen Kaffee und Brötchen.
»Sie sehen so
merkwürdig aus, Gunther«, meinte Kraus, als er die Miene
des jungen Mannes sah.
Gunther warf ihm einen
besorgten Blick zu. »Hier.« Er schob ihm ein Blatt
Papier hin. »Die besten orthopädischen Chirurgen in
Deutschland.«
Kraus kannte keinen
Namen, aber er war froh, dass mit wenigen Ausnahmen fast alle eine
Berliner Adresse hatten. Er faltete das Blatt zusammen und schob es
in seine Jackentasche.
Ȇber
Knochentransplantationen habe ich bisher noch nichts gefunden. Es
ist ein ziemlich obskures Gebiet.«
»Versuchen Sie
es in der Bibliothek der Medizinischen Fakultät. Oder in der
Charité. Irgendetwas muss es darüber
geben.«
»Ja,
Chef.« Gunther schrieb sich die Namen auf. »Was die
verschwundenen Amerikaner angeht, liegen drei Vermisstenmeldungen
für 1932 vor, darunter aber nur eine Frau. Sie heißt
Gina Mancuso, stammt aus einer kleinen Stadt namens Schenectady im
Bundesstaat New York.«
Mancuso. Kraus dachte
an die dunklen, warmen Augen der Toten.
»Werfen wir
einen Blick in ihre Akte.«
»Die ist nicht
mehr da.«
»Wie
bitte?«
»Ihr Name und
das Herkunftsland waren im Zentralen Programm für
Verschwundene Personen erfasst, aber ihre Akte ist aus dem Archiv
verschwunden.«
»Also ist nicht
nur sie, sondern auch ihre Akte verschollen? Das ist aber sehr
merkwürdig.«
»Sie kennen doch
dieses hübsche Mädchen da unten, Elfrieda?«, fuhr
Gunther fort. »Sie hat geschworen, dass sie die Akte noch vor
einer Woche gesehen hat, als sie die Personen mit dem Buchstaben
›M‹ katalogisiert hat. Aber sie hat gesucht und
gesucht, und jetzt ist sie ganz bestimmt nicht mehr
da.«
»Und niemand hat
sie sich ausgeliehen?«
»Jedenfalls
nicht offiziell.«
»Sie müssen
sich weiter darum kümmern, Gunther, während ich der
bulgarischen Prinzessin hinterherjage. Finden Sie alles über
Gina Mancuso heraus, was Sie können. Vielleicht bekommen wir
ja wenigstens eine eindeutige Identifizierung.«
»Da ist noch
etwas, Chef. Sie erinnern sich doch noch an die Preußischen
Nervenheilanstalten?«
»Ja,
natürlich. Was haben Sie herausgefunden? War diese Mancuso
eine Insassin?«
»Darüber
gibt es keine Aufzeichnungen. Aber was das Kahlscheren der
Köpfe angeht – alle staatlichen Institutionen haben
diese Praxis vor mehr als vier Jahren aufgegeben.«
»Verstehe.« Kraus
dachte darüber nach. Das war einerseits eine gute Nachricht,
aber auf der anderen Seite stiftete diese Information
Verwirrung.
»Wollen Sie mal
raten, wie viele Insassen allein aus einer dieser Einrichtungen,
dem Asyl Berlin-Charlottenburg, im letzten Jahr verschwunden
sind?«
»Ich denke, es
dürfte eine ziemlich große Anzahl
sein.«
»Wie wäre
es mit zweihundertfünfundfünfzig?«
»Das erscheint
mir recht hoch.«
Gunther schob Kraus
eine getippte Liste von mehreren Seiten herüber.
»All diese Leute
sind entflohen?«
»Kein Einziger
ist weggelaufen. Sie wurden verlegt. Und zwar immer
fünfundachtzig gleichzeitig. Im Abstand von mehreren
Monaten.«
Kraus überflog
den Kopf jeder Liste. »Was heißt
›Spezialbehandlung‹?«
»Das scheint
keiner zu wissen.«
»Und wer hat sie
verlegen lassen?«
»Das scheint
keiner zu wissen.«
»Das ist doch
grotesk!« Kraus regte sich auf. Warum nervte ihn Gunther
damit? »Jemand muss wissen, wer diese Leute in Empfang
genommen hat. Warum sagen Sie überhaupt, dass sie vermisst
wären?«
»Weil sie genau
das sind, Chef. Sie sind verschollen. Es gibt keinerlei
Aufzeichnungen darüber, wohin sie verschwunden
sind.«
»Gunther
…« Kraus riss sich mit größter Mühe
zusammen. »Ich kann mich im Moment damit nicht
beschäftigen.«
»Aber glauben
Sie nicht, dass ich wenigstens …«
Kraus erinnerte sich
daran, dass es
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