Schlafwandler
Der Künstler saß
bereits halb verwandelt an seinem Schminktisch. Das pechschwarze
Haar war verschwunden und hing an einem Perückenständer,
die tödlich blickenden, schwarzen Augen waren auf mehrere
zerknüllte Papiertücher verteilt. Die weiße Haut
und die merkwürdigen roten Lippen waren bereits von Abschminke
weggewischt.
»Kripo? Meine
Güte!« Er sprang auf und zeigte zum ersten Mal an diesem
Abend natürliche Gefühle. »Was um alles in der Welt
habe ich jetzt schon wieder angestellt? Kommen Sie herein, nur
herein!«
»Herr
Gustave«, sagte Kraus. »Sie haben am Samstagabend eine
junge Frau hypnotisiert, die später spurlos verschwunden
ist.«
»Was – sie
ist verschwunden?«
Kraus zeigte ihm das
Foto der Prinzessin.
»Ich kann mich
nicht an sie erinnern. Ehrlich, ich würde es Ihnen sagen, wenn
es anders wäre. Ich habe nichts zu verbergen. Aber wissen Sie,
wie viele Vorstellungen ich pro Woche gebe? Die Gesichter all
dieser Frauen verschwimmen in meinem Kopf. Meine Arbeit erfordert
sehr viel Konzentration. Vielleicht genauso viel wie Ihre, Herr
Kriminalinspektor.«
»Was ist mit den
Beinen?«, erkundigte sich Kraus. »Würden Sie
sagen, sie hatte Champagnerflaschen-Beine? Baby-Doll-Beine oder
ideale Beine?«
»Ach,
das!« Gustave lachte, wischte sich den Rest der Abschminke
aus dem Gesicht und verwandelte sich dadurch in einen vollkommen
unauffälligen Mann Ende vierzig mit dünnem, braunem Haar,
ruhigen, freundlichen Augen und einem eher liebenswürdigen
Gesicht. »Sie nehmen dieses Zeug doch nicht ernst? Das
gehört alles zur Nummer. Ich mache das, um die Frauen
aufzuheizen. Frauen sind mein Markenzeichen. Ich muss meinem Ruf
gerecht werden und beweisen, dass ich selbst die hübschesten
Frauen vollkommen unter meine Kontrolle bekomme. So etwas wie diese
neun Arten von Beinen gibt es natürlich gar nicht. Ich habe
sie erfunden, damit es klingt, als besäße ich ein
umfassendes, esoterisches Wissen. Die Menschen wollen an Magie
glauben. Sie wollen sich einer höheren Macht ergeben. Das
alles gehört zu meiner Arbeit, meine Herren. Ich mache meine
Arbeit, so wie Sie Ihre machen. Es tut mir leid, dass dieses arme
Mädchen verschwunden ist, wirklich. Ich will keiner lebenden
Seele etwas Böses. Aber ich hatte ganz bestimmt nichts damit
zu tun. Sobald ich diese Frauen aufwecke, sind sie wieder
vollkommen normal. Das haben Sie ja selbst
gesehen.«
»Ja, das habe
ich schon. Aber Sie werden sicher als Erster zugeben«,
Kraus’ Stimme klang nicht so barsch, wie es ihm lieb gewesen
wäre, »dass das, was man sieht, und das, was wirklich
existiert, nicht immer dasselbe ist.« Fast gegen seinen
Willen mochte er den Mann. Etwas an dieser Person war absolut
sympathisch. »Entschuldigen Sie, dass wir Sie belästigt
haben, Herr Gustave«, schloss er. »Ihre Vorstellung war
sehr erhellend. Äußerst erhellend
sogar.«
Er beschloss, sich
umgehend einen Durchsuchungsbefehl zu beschaffen, um die Wohnung
des Königs der Mystiker auf den Kopf zu stellen.
SECHS
Der nächste
Morgen war ausgefüllt mit Besprechungen mit den
Gruppenleitern, den Abteilungsleitern, den hohen Tieren. Den
Untergebenen. Und dann noch ein höchst aufschlussreiches
Treffen am frühen Nachmittag mit Gunther, der soeben aus dem
medizinischen Archiv der Charité zurückgekehrt
war.
»Ich habe
endlich etwas über Knochentransplantation
herausgefunden.« Gunthers Gesicht wies keine Spur mehr von
dieser wölfischen Lust auf, die Kraus am Abend zuvor bemerkt
hatte. Er war einfach wieder der gute, alte Gunther. Der Wolf in
ihm schlief wieder. »Einen längeren Artikel aus dem Jahr
1930 von der Medizinischen Hochschule in Leipzig. Es geht dabei
speziell um die Transplantation von menschlichen Knochen unter
Verwendung von Techniken, die den Knochen eine Regeneration im
Wirtskörper erlauben. Raten Sie, wer ihn verfasst
hat.«
Kraus liebte es, wenn
der Junge so verspielt war wie jetzt.
Gunther beugte sich
vor und seine blauen Augen funkelten. »Dr. Hermann
Meckel.«
Dann hing also
tatsächlich alles miteinander zusammen! Es traf Kraus wie ein
Donnerschlag. Meckel hatte sowohl etwas mit der Meerjungfrau als
auch mit der bulgarischen Prinzessin zu tun. Hier war etwas
Großes im Gange.
Etwas schreckliches
Großes.
»Das ist noch
nicht alles«, fuhr Gunther fort. »Im Archiv der
Charité fehlt auch Meckels Akte. Sein Name steht auf der
Mitarbeitertafel, aber es gibt keinerlei Unterlagen über ihn.
Der Angestellte hat mir versichert, dass
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