Schlafwandler
ein sehr
erfahrener Selbstdarsteller, soviel hatte Kraus den Tiraden seines
Cousins Kurt entnommen. Ein geborener Schmeichler, der alles
beherrschte, angefangen von Löwendressur bis hin zu
Gedankenlesen. Nach dreißig Jahren Berufserfahrung
beherrschte er die Kunst der Dramaturgie perfekt, angefangen von
seinem weißgeschminkten Gesicht und den dunklen Augen bis zu
der übertriebenen
Stummfilm-Mimik.
»Die
Hölle«, seine Stimme bebte wie die eines
Bühnenschurken, »ist ebenso ein geistiger Zustand wie
ein physischer Ort. Aus diesem Grund hat mich der Klub Hölle heute Abend
herabgezogen, um mit Ihnen eine Reise in diejenigen Bereiche des
Verstandes zu unternehmen, die Sie normalerweise nur im Schlaf
erleben. In das Reich des tiefsten Unbewussten. Für unsere
Reise heute Abend werde ich etliche Freiwillige benötigen, die
ich unter den weiblichen Gästen erwählen werde. Nichts
für ungut, meine Herren. Ich mag nun einmal
Mädchen.
Also, meine Damen,
während ich durch das Publikum schlendere, werde ich Sie alle
bitten, Ihre Röcke zu lüpfen. Ich habe nichts
Unschickliches im Sinn, also heben Sie sie nur bis zum Knie. Ich
muss zugeben, dass meine Aufgabe einfacher war, als wir alle noch
in den Genuss kürzerer Röcke gekommen sind. Aber heute
muss ich Sie leider alle bitten, die Röcke ein wenig
hochzuheben, bis dahin, wo sie 1929 endeten. Heben Sie sie, damit
ich die Form und die Eigenschaften Ihrer Beine prüfen kann. So
ist es richtig. Danke. Ich danke Ihnen allen
sehr.«
Kraus fand es
erstaunlich, dass nicht eine einzige Frau im Klub sich dieser
Aufforderung verweigerte. Sie alle hoben fast gleichzeitig ihre
Röcke an, sehr zum Vergnügen ihrer männlichen
Begleiter.
»Es ist nicht
nur so, dass ich einfach gerne Frauenbeine betrachte, was
selbstverständlich der Fall ist. Aber es ist eine wenig
bekannte Tatsache, meine Damen und Herren, dass es neun Grundtypen
weiblicher Beine gibt, und dasselbe kann man über den
Charakter, das Gesicht und die Handfläche einer Frau sagen.
Diese entzückende Dame hier zum Beispiel hat, wie wir es
nennen, Champagnerflaschen-Beine. Und zwar nicht nur, weil sie
teuer und köstlich sind – was sie ganz gewiss sind
–, sondern wegen ihrer Form; wegen ihrer schlanken,
zierlichen Fesseln und der festen, prallen Waden. Das Knie ist
nicht knochig, sondern gerundet, fast kugelförmig. Das sagt
mir, dass sie weich und liebevoll ist, mütterlich. Sie hat
viele Freunde und ein heimeliges, liebevolles Heim. Habe ich
recht?«
»Ja, ja, Sie
haben recht!«
»Stimmen Sie ihr
zu?«, fragte Gustave den Mann neben ihr.
»Ja,
ziemlich.«
»Dann sind Sie
ein Glückspilz. Aber bedauerlicherweise sind Frauen mit
Champagnerflaschen-Beinen nicht die besten Subjekte für unsere
Experimente. Nein, ich suche nach Beinen, die wir Baby-Doll-Beine
nennen. Die Knöchel verjüngen sich unmerklich zur Wade
hin, die sich anmutig zum Knie hinwölbt. Denn eine Frau mit
Baby-Doll-Beinen besitzt einen klaren Sinn für Vertrauen und
Neugier. Oder ich suche nach dem klassischen Bein, das eine Frau
verrät, die sowohl Intuition als auch Phantasie besitzt. Am
besten sind natürlich die idealen Beine. Sie wünschen
sich vielleicht solche Beine, meine Damen, aber nur eine von
tausend Frauen besitzt sie. Das ideale Bein deutet, wie alles
Wundervolle und Perfekte, auf eine starke, vitale Lebenskraft hin.
Auf Leidenschaft!«
Kraus musste
unwillkürlich an die monströs verstümmelten Beine
der Meerjungfrau denken. Oder an das Foto der bulgarischen
Prinzessin, auf dem sich ihr Ehemann vor ihr verbeugte. Hatte sie
diese Baby-Doll-Beine? Oder die klassischen Beine? Etwas am
Verhalten von Gustave kam Kraus höllischer vor, als es diese
Nachtclub-Vorstellung verlangte. Er musterte nicht nur sehr genau
die Beine, sondern auch die Gesichter der Frauen, ihre Haltung,
ihre Kleidung. Und er suchte sich genau diejenigen aus, die er
wollte. Oder bin ich einfach nur paranoid?, fragte Kraus sich.
Empfand er nur einen ganz natürlichen Widerstand gegen die
Zurschaustellung offenkundiger Macht? Denn dieser Gustave hatte
sein Spiel wahrhaftig perfektioniert. Er suchte sich nur die
erotischsten Damen für seine hypnotischen Sensationen
aus.
Als sechs wahrlich
entzückende Damen in einem Halbkreis auf der Bühne
saßen, erloschen die Lichter im Zuschauerraum
wieder.
»Meine Damen
…«, dröhnte die Baritonstimme. »Ich
möchte, dass Sie ihren Blick direkt auf meinen gerichtet
halten. Während ich zu Ihnen spreche,
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