Schlafwandler
Wolfgang Mutze, der Leiter der
Abteilung für Vermisste Personen. »Sieh an, Kraus. Wie
läuft die Gespensterjagd? So nennen wir das bei uns, wissen
Sie.« Mutzes Doppelkinn rollte sich über den Hemdkragen,
als er lachte. »Was haben Sie denn bisher über diese
verschwundene rumänische Prinzessin
herausgefunden?«
»Sie ist
Bulgarin. Ansonsten nicht viel. Aber eines ist
merkwürdig«, fuhr er fort, als der alte, klapprige
Fahrkorb endlich unten ankam. »Der letzte Mensch, der sie
gesehen hat, der Türsteher vom Adlon, sagt, er hätte
gedacht, sie würde schlafwandeln.«
»Noch ein
Schlafwandler?«, blaffte Mutze, als sie den Fahrstuhl
betraten. »Würden Sie für mich bitte die Vier
drücken, Kraus?«
»Was meinen Sie
mit ›noch einer‹?« Kraus schloss das
Metallgitter.
»Na ja, wir
haben im letzten Jahr bestimmt ein Dutzend davon
gehabt.«
»Ein Dutzend
Schlafwandler? Die verschwunden sind?«
»Klar. Es hat
Anfang letzten Jahres angefangen. Wir halten das für einen
sonderbaren Kult. In Berlin wimmelt es nur so
davon.«
»Ich muss ihre
Akten sehen. Alle. Sofort.«
Mutzes Miene wurde
kühler. »Es steht Ihnen frei, sich an meine
Sekretärin zu wenden. Die Akten sind ganz bestimmt nicht
ordentlich katalogisiert. Wir haben keine Schlafwandler-Akte
angelegt. Es sind einfach nur zufällige
Fälle.«
»Und Sie haben
nie daran gedacht, die Fälle
zusammenzubringen?«
»Hören Sie,
Kraus, man hat sie vielleicht zum Kriminalinspektor gemacht, aber
das gibt Ihnen nicht das Recht, so mit mir zu reden. Haben Sie eine
Ahnung, wie viele Menschen täglich in dieser Stadt
verschwinden? Fünfzig bis sechzig! An einem gemütlichen
Tag. Dagegen geht es da oben in ihrer Mordkommission recht
beschaulich zu. Ich glaube, dass Sie nicht einmal ein Zwanzigstel
der Fälle auf den Tisch bekommen, die wir bewältigen
müssen. Und wenn Sie mal einen Fall lösen, tun alle so,
als wären Sie eine Art Herkules.«
Der Aufzug kam
klappernd im vierten Stock zum Stehen. Mutze stürmte
hinaus.
»Ich schicke
sofort meinen Kriminalanwärter zu Ihnen«, rief Kraus ihm
nach.
»Machen Sie
das.«
Ein Dutzend
Schlafwandler. Kraus hatte seinen Ohren nicht getraut. Er hatte
gerade den fünften Stock erreicht und wollte nach Gunther
rufen, als ihm einfiel, dass er noch etwas anderes zu tun hatte,
und er drückte den Knopf zum Untergeschoss, der
Rechtsmedizin.
»Ja,
natürlich.« Der neue Chef der Abteilung, Dr. Schurze,
erhob sich hinter dem Schreibtisch, den zuvor Dr. Hoffnung besetzt
hatte. Er zog eine breite, flache Schublade von einem der
Medizinschränke auf und reichte Kraus einen
Glasbehälter.
Darin lag eine
funkelnde, goldene Männeranstecknadel.
Kraus nahm sie heraus.
»Wenn ich mich nicht irre, werden diese goldenen Nadeln nur
langjährigen Parteimitgliedern verliehen.«
»Das
stimmt«, erwiderte Schurze.
Etwas an diesem neuen
Arzt machte Kraus misstrauisch. Vielleicht war es die Brille. Die
Gläser waren so dick, dass man kaum glauben konnte, dass er
tatsächlich eine Obduktion durchführen konnte.
»Die goldene
Nadel«, fuhr Schurze fort, der offenbar sehr gut über
die Geschichte der Nationalsozialisten informiert war, »wird
nur den Parteimitgliedern verliehen, die am Putsch vom November
1923 teilgenommen haben. Wem auch immer diese Nadel gehört
hat, er musste ein hohes Parteimitglied sein.«
»Was hat dieses
Symbol hier zu bedeuten?« Kraus deutete auf den kleinen Stab,
um den sich eine Schlange wand, und der unmittelbar unter dem
Hakenkreuz eingestanzt war.
»Das ist das
Symbol des Medizinischen Korps der SA, Herr
Kriminalkommissar.«
»Die
SA.«
»Das
Medizinische Korps der SA wurde 1923
gegründet.«
»Und wo, sagten
Sie, haben Sie diese Nadel gefunden?«
»Sie steckte,
zufällig oder absichtlich, an der Innenseite des grauen
Kittels, den das Opfer trug.«
Kraus konnte das kaum
glauben, ja, es erschien ihm fast unmöglich. Dr. Hoffnung
hätte ein solch wichtiges Beweisstück niemals
übersehen. Und er hätte sich auch niemals ohne ein Wort
zur Ruhe gesetzt. Hatte vielleicht jemand, möglicherweise
Schurze selbst, die Nadel dorthin gesteckt, um Dr. Hoffnung
loszuwerden? Und wenn ja, warum?
»Gunther«,
sagte Kraus, »wir beide werden für eine Weile die Rollen
tauschen.«
»Sie meinen, ich
muss Sie herumkommandieren?« Gunther schien diese Idee nicht
sonderlich zu gefallen.
»Nein. Sie
werden sich auf die Suche nach der verschwundenen bulgarischen
Prinzessin machen, und ich werde mich mit Gina Mancusos
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