Schlafwandler
die Akte da gewesen war.
Aber jetzt ist sie aus irgendwelchen Gründen
verschwunden.«
»Dafür kann
es nur einen Grund geben.« Kraus hatte das Gefühl, dass
eine große Dunkelheit am Horizont heraufzog. »Dass sie
jemand entfernt hat, bevor wir dorthin gekommen sind, Gunther.
Jemand oder etwas ist uns ständig einen Schritt
voraus.«
Gunther schluckte.
Sein gewaltiger Adamsapfel rutschte seinen Hals herunter.
»Vielleicht hilft uns ja diese goldene Anstecknadel weiter,
die man an der Kleidung der Meerjungfrau gefunden
hat.«
»Welche goldene
Anstecknadel?«, erkundigte sich Kraus.
»Wussten Sie das
nicht? Ich habe Dr. Schurze aus der Rechtsmedizin getroffen. Er hat
mir gesagt, dass sie eine goldene Anstecknadel der NSDAP an diesem
grauen Kittel gefunden haben, den die Meerjungfrau
anhatte.«
Alarmglocken
schrillten in Kraus’ Kopf. »Dr. Hoffnung hat keine
goldene Anstecknadel erwähnt. Und wer ist dieser
Schurze?«
»Der neue Chef
der Rechtsmedizin. Dr. Hoffnung wurde
pensioniert.«
»Pensioniert?
Aber das ist …« In diesem Moment bemerkte Kraus, dass
einer seiner Ermittlungsbeamten, der kleine, schnauzbärtige
Herbert Thurmann, sich in der Nähe der Tür
herumdrückte. »Das ist sehr
interessant.«
Als Kraus endlich
allein war, lehnte er sich auf seinem Bürostuhl zurück
und starrte aus dem Fenster. Ihm war vollkommen bewusst, dass es
eine Illusion wäre, anzunehmen, ein jüdischer
Kriminalinspektor könnte es im Alleingang mit einem SA-General
aufnehmen. Das hieß aber nicht, dass dieser Kerl unantastbar
war, sondern nur, dass es Zeit wurde, stärkere Geschütze
aufzufahren. Fritz – einen der berühmtesten Journalisten
Deutschlands. Es gab keine Menschenseele in Berlin, die er nicht
kannte. Und zwar weniger wegen seiner prägnanten politischen
Analysen, sondern vielmehr, weil sein Name »von
Hohenzollern« lautete. So wie der dieser abgesetzten,
königlichen Familie, mit der er als Cousin verwandt war.
Abgesetzt oder nicht, der Name öffnete in Deutschland nach wie
vor alle Türen.
Kraus griff zum
Telefon.
»Wo, um Himmels
willen, hast du gesteckt?« Fritz war wie immer begeistert,
von ihm zu hören. Im Krieg hatte Kraus ihm mehr als einmal das
Leben gerettet. Fritz würde alles für ihn tun. »Ich
möchte dich der tollsten Frau vorstellen, die ich jemals
getroffen habe. Sie ist so klug wie eine …«
»Fritz, hör
zu. Ich brauche einen Termin bei von Schleicher. Und zwar
dringend.«
»Von Schleicher.
Das ist ein verdammt hohes Tier. Aber wenn es wirklich dringend ist
…«
Die ganze Sache war
eingefädelt, als Kraus von der Toilette
zurückkam.
»Niemand kann
Dinge so gut arrangieren wie du. Du solltest zum Kanzler ernannt
werden, Fritz.«
»Vergiss es. Wir
müssen uns unbedingt zum Kaffee treffen. Ich muss dir einfach
von dieser wundervollen Frau erzählen, Kraus. Bevor irgendein
Schwein sie wegschnappt.«
In von Schleichers
Büroflucht im Kriegsministerium stand der Schreibtisch des
Generals, ein gewaltiges, vergoldetes Monstrum, etwa zwei Drittel
so groß wie der von Hindenburg, schätzte Kraus. In
Deutschland war alles nach Status eingeordnet, angefangen vom
Schreibtisch bis zum Eingang, den man morgens benutzte. Er konnte
sich leider des Gefühls nicht erwehren, dass sein eigener
Status immer tiefer sank, je länger er
weitermachte.
Die Miene des
Ministers wurde mit jeder Sekunde ungläubiger. Ein SA-General?
Medizinische Experimente?
Kraus spürte, wie
ihm der Schweiß über den Rücken lief. Der Mann war
gerissen, das wusste er. Er war durchaus fähig, für beide
Seiten zu spielen. Aber wofür würde er sich
entscheiden?
Schließlich riss
der General das Monokel aus seinem Auge. »Die Armee wird Sie
unterstützen!« Seine blauen Augen funkelten, als
würde er gerade tausend Pläne aushecken. »Wenn
dieser Meckel sich der Verbrechen schuldig gemacht hat, derer Sie
ihn verdächtigen, wäre das ein Schock für die ganze
Nation. Und genau der Vorwand, auf den ich gewartet habe, Kraus.
Sehr gut. Ganz ausgezeichnet!«
Von Schleicher schien
schon alles genau vor sich zu sehen. »Diese Nazischweine
müssen auf die einzige Art und Weise aufgehalten werden, die
sie verstehen: Mit Gewalt! Röhm und seine Handlanger
träumen schon seit Monaten davon, mich aus dem Weg zu
räumen und die Armee zu übernehmen. Dieser Vorwurf wird
mir ermöglichen, ihnen zuvorzukommen. Ich werde sie zermalmen.
Sie vernichten. Sie zu Pferdefutter verarbeiten!«
Von Schleichers
Vorhaben kam Kraus ein
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