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Schlafwandler

Schlafwandler

Titel: Schlafwandler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
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hoch spezialisierte Professionelle, denn ein Stiefel war
auf der Tauentzienstraße nicht einfach nur eine
Fußbekleidung, sondern ein sorgfältig ausgewähltes
Reklamemittel.
    Und zwar von der
verrücktesten Sorte.
    »Schlammbad?«, mochte
einem das Mädchen in den braunen Knöchelstiefeln
zuraunen, wenn man an ihr vorbeiging, während ihre Freundin in
den hüfthohen gelben Stiefeln meinte: »Noch besser, wie
wäre es mit einer erfrischenden Dusche heute Morgen, was,
Kleiner?«
    Ganze
Fremdenführer widmeten sich der Interpretation dieser
Farbkodes.
    Bevor Kraus die
Straße überquerte, beobachtete er Fräulein Paula
Hoffmeyer. Sie war ein bemerkenswertes Geschöpf. Von der
Hüfte an aufwärts trug sie die formelle Garderobe eines
Mannes: Frack, Fliege und eine weiße Nelke im Knopfloch.
Jedes Detail war perfekt, einschließlich der ledernen
Reitgerte, die sie unter den Arm geklemmt hatte. Ihr braunes Haar,
im Nacken kurz geschnitten, war onduliert, die Hände steckten
in fingerlosen schwarzen Handschuhen. Ihre Augen waren fast so
dunkel geschminkt wie die des Großen Gustave. Von der
Hüfte abwärts dagegen war sie eine
     
    femme
fatale .
Eine kurze, schwarze Seidenhose ließ den Blick auf
Strumpfhalter und Strapse frei, die ihre Strümpfe hielten. Und
dann diese Stiefel. Sie hatten besonders hohe und besonders
dünne Absätze, liefen vorn spitz zu, bestanden aus
purpurrotem Lackleder und hatten knallrote
Schnürsenkel.
    Ohne einen
Fremdenführer konnte Kraus die Bedeutung dieses Aufzugs nicht
entziffern. Er sah nur, dass Paula im Unterschied zu den anderen
Mädchen, die meist zu zweit arbeiteten, allein über den
Bürgersteig schritt. Sie ging hoch aufgerichtet, fast zackig.
Hastig überquerte er hinter zwei Straßenbahnen die viel
befahrene Hauptstraße.
    Ein Lastwagen
hupte.
    Ein Motorradfahrer
umkurvte ihn knatternd.
    An der Ecke schrie ein
Zeitungsjunge die Morgenschlagzeilen heraus. »Hitler –
Nein zur Vizekanzlerschaft. Hindenburg – Nein zu
Hitler!«
    »Fräulein.« Kraus
tippte Paula Hoffmeyer auf die Schulter.
    Sie drehte sich um und
lächelte ihn an. »Sie sehnen sich nach Disziplin? Oh,
dann müssen Sie ja ein sehr schlimmer …« Ihr
Lächeln erlosch, als sie die Dienstmarke sah. »Was denn?
Bei mir ist alles in Ordnung. Muss ich Ihnen jetzt etwa meine
Lizenz zeigen?« Sie machte Anstalten, ihre Jacke zu
durchsuchen. »Mein Gott, diese Stadt verwandelt sich wirklich
allmählich in einen richtigen Polizeistaat.«
    »Ihre Lizenz
interessiert mich nicht, Fräulein. Ich bin von der
Kriminalpolizei.«
    Er sah, wie sie blass
wurde.
    »Kann ich Sie zu
einem Kaffee einladen?«
    »Das ist ein
Witz, ja? Sie wollen mir einen Kaffee spendieren? Also gut, dann
muss es ja wirklich was Schlimmes sein. Sagen Sie es mir einfach,
Herr Inspektor. Kommen Sie schon, ich kann das vertragen. Wen hat
es diesmal erwischt?«
    »Bitte. Ich
möchte Ihnen einen Kaffee ausgeben. Wo Sie
wollen.«
    »Wo ich will?
Hmm, lassen Sie mich nachdenken …« Sie tippte sich mit
ihren Fingern ans Kinn. »Wie wäre es dann mit dem Romanischen
Café ?«
    Das musste Kraus ihr
lassen, sie konnte offenbar ebenso gut austeilen wie einstecken.
Sie hätte sich auch für den Kaiserhof oder das Adlon
entscheiden können. Aber von den Hunderten von Cafés in
Berlin war das Romanische
Café der Ort, wo er am wenigsten mit
ihr gesehen werden wollte. Nicht, weil es beliebt oder besonders
teuer gewesen wäre, sondern weil es ein Lokal war, wo ihn so
ziemlich jeder erkennen würde. »Also gut«,
erwiderte er. »Kommen Sie!«
    Zu ihrem Glück
lag das Café praktisch um die Ecke, denn als sie losgingen,
öffnete sich der Himmel und schickte einen kalten Regenguss
zur Erde. »Sie haben mich vor einem schrecklichen Schicksal
bewahrt!«, rief Paula und hielt sich die Hände über
den Kopf, als sie an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche
vorbeigingen. Die gewaltigen Glocken über ihnen begannen,
fünf Uhr zu schlagen. Kraus nahm ihren Arm, als sie sich durch
den Verkehr über den Breitscheidplatz
schlängelten.
    Das Romanische
Café lag an einer der verkehrsreichsten
Ecken von Westberlin. Mit seinen vielen Räumen, den hohen,
gewölbten Decken, den zahllosen, gemütlichen
Korbstühlen und der berauschenden Mischung von Kaffeesorten,
deren Duft die Luft anreicherte, bot es den vielen Künstlern
und Intellektuellen Berlins eine Heimstatt. Natürlich
gehörte Kraus nicht zu diesem Kreis. Aber Fritz! Der
Journalist und entfernte Verwandte des ehemaligen

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