Schlafwandler
Kaisers war so
ziemlich mit allen hier befreundet. Und so ziemlich jeder kannte
Fritz’ ältesten Freund, seinen Kriegskameraden und
Lebensretter, den Kriminalbeamten Wilhelm Kraus.
Max Reinhardt, der
berühmte Theaterimpresario, und Bertolt Brecht, der brillante,
junge Dramaturg mit seiner typischen Ledermütze, blickten von
ihrem Tisch auf und winkten ihm freundlich zu, während sie
neugierig das Stiefelmädchen betrachteten, das Kraus am Arm
hing. Thomas Mann, Deutschlands bekanntester Romancier, stand auf,
schüttelte Kraus die Hand und wurde seiner Begleiterin
vorgestellt, die ihn sichtlich faszinierte. Und wem sonst
hätte dieses wild vom Kopf abstehende Haupthaar gehören
können als dem berühmtesten Deutschen, Albert Einstein,
der seine Zeitung nur kurz sinken ließ, um Kraus am
Ärmel festzuhalten und ihm eindringlich zuzuraunen: »Ich
habe mich entschieden, nach Amerika zu gehen, Kraus. Und zwar
sofort nach Neujahr. Das Klima hier wird immer bedrohlicher. Sie
sollten sich überlegen, ebenfalls wegzugehen, solange Sie das
noch unbehelligt können.«
Kraus drückte dem
Wissenschaftler die Hand und wünschte ihm alles Glück der
Welt.
Als Paula und er sich
an einen Tisch setzten, schlug ihm jemand hart auf den
Rücken.
»Du alter
Windhund, du!« Fritz packte seine Schulter und
schüttelte ihn mit männlicher Anerkennung. Dann fuhr sich
Fritz mit dem Finger über seinen Schnurrbart und musterte
Paula von Kopf bis Fuß. »Und ich dachte, du
würdest vor Einsamkeit verschmachten.«
Kraus wollte zu einer
Erklärung ansetzen, doch Paula kam ihm zuvor.
»Paula.«
Sie streckte ihre Hand mit den fingerlosen Handschuhen aus.
» Enchanté. Tut mir leid, dass wir
so ein Staatsgeheimnis daraus gemacht haben, aber da wir uns jetzt
sicher sind, können wir es der ganzen Welt verraten. Inspektor
… Wie war dein Name noch mal, Liebchen? Kraus. Kraus und ich
werden heiraten!«
Fritz starrte sie an,
als wäre sie vollkommen verrückt geworden, und sein
langer Schmiss auf der Wange flammte tiefrot auf, als er schallend
lachte. »Du alter Windhund«, wiederholte er und drohte
Kraus fröhlich mit dem Finger.
Während er sich
zurückzog, tat er, als würde er eine Telefonscheibe
drehen und bildete mit den Lippen die Worte: »Ruf mich an, du
Bluthund!«
Paula und Kraus sahen
sich an.
»Tut mir
leid.« Sie zuckte mit den Schultern, kaum in der Lage, ihr
Entzücken zu verbergen. »Sie müssen jedoch zugeben,
dass es komisch war.«
Es war schwer zu
sagen, wie hübsch sie unter ihrem Make-up wirklich war, aber
Kraus vermutete, dass sie weit attraktiver aussah, als sie
durchblicken ließ. Außerdem machte ihre Figur das
ohnehin irrelevant. Jedenfalls, was ihre Geschäfte anging. Die
vollen Brüste unter ihrem Männerhemd drängten gegen
die weiße Baumwolle und spannten die Knöpfe fast bis zum
Zerreißen. Wo das Hemd endete, ließen ihre Schenkel die
schwarze Seidenhose förmlich funkeln, und der Zentimeter
rosiges Fleisch, der unter dem Strapsgürtel hervorlugte, hatte
eine beinahe unwiderstehliche Wirkung. Und dann diese Beine
… Kraus bemerkte, wie Paula sie langsam unter dem Tisch
übereinanderschlug. Sie entsprachen ganz bestimmt der
Kategorie »Ideal« des Großen Gustave.
Als ihre Bestellung
serviert wurde, stürzte Paula sich auf ihre Schwarzwälder
Kirschtorte, als hätte sie schon seit Tagen nichts mehr
gegessen. Aber als sie dann ihren Kaffee trank, spreizte sie ihren
zierlichen kleinen Finger ab, wie sie es zweifellos im Kino gesehen
hatte.
Gegen seinen Willen
war Kraus fasziniert. Er hatte das Gefühl, als würde
etwas Schreckliches, Reales versuchen, diese Aura eines Traumes zu
durchbrechen, die sie ebenso überzeugend trug wie ihr
Kostüm.
Paula schluckte und
stellte die Kaffeetasse ab. »Also, bringen wir es hinter uns,
Kraus? Worum geht es?«
»Um Gina
Mancuso.«
Die letzten
Krümel fielen ihr von der Gabel. »Mein
Gott!«
»Wir sind nicht
sicher, dass wir sie gefunden haben. Aber wir glauben es. Und wir
möchten, dass Sie uns helfen, uns Gewissheit zu
verschaffen.«
»Ich nehme nicht
an, dass sie noch … lebt?«
»Nein.«
Paula saß
regungslos da. Nur die Tränen, die ihr aus den Augen liefen,
bewegten sich und spülten die dick aufgetragene Wimperntusche
in breiten, schwarzen Streifen über ihre Wangen.
»Ich habe
eigentlich auch nicht geglaubt, dass sie noch am Leben ist. Nicht
nach all den Monaten. Ihre Eltern werden verzweifelt sein. Sie sind
den weiten Weg aus Schenectady, New
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