Schlafwandler
vollkommen
versagt.
»Und was ist so
besonders am heutigen Tag?« Kraus bemerkte, dass Kais Augen
verdächtig glänzten.
»Heute ist mein
achtzehnter Geburtstag, und ich habe beschlossen, mich zur Ruhe zu
setzen. Ich habe die Bande aufgegeben, das heißt, ich habe
sie Hügler übergeben. Um vier Uhr heute Nachmittag melde
ich mich bei meiner neuen Stellung.«
Kraus wusste, dass Kai
seit seinem siebten Lebensjahr nicht mehr zur Schule gegangen war,
und konnte sich nicht vorstellen, dass eine besonders
vielversprechende Karriere auf ihn wartete. Trotz der vielen
ausgezeichneten Eigenschaften, die dieser Junge hatte. Also
wünschte er ihm nur viel Glück und fuhr fort: »Und
vergiss nicht, Kai, wenn ich jemals etwas für dich tun kann
…«
»Ich bin es, der
vielleicht bald in einer Position ist, etwas für Sie zu tun,
Herr Inspektor.« Kai zwinkerte ihm geheimnisvoll
zu.
»Sie war
da!« Gunthers kobaltblaue Augen summten förmlich, als
hätte er einen Röntgenblick.
Zum Glück blickte
er durch Kraus hindurch, ohne zu bemerken, dass er in derselben
Kleidung aufgetaucht war wie gestern. Ruta dagegen war das sicher
nicht entgangen.
»Ich habe die
ganze Nacht dagesessen und Bier getrunken, Chef. Jedenfalls habe
ich das Gespräch irgendwann auf Frauenbeine gelenkt, so wie
Sie es vorgeschlagen haben. Sie würden staunen, wenn Sie
wüssten, wie viele Männer scharf auf Beine sind. Ich habe
immer gedacht, Brüste wären die Nummer eins. Aber nichts
da! Schließlich, beim dritten oder vierten Mann, mit dem ich
mich unterhalten habe, habe ich die Sprache auf das Thema
›die tollsten Beine‹ gelenkt, und er hat von dieser
exotischen Puppe angefangen, die am letzten Wochenende im Schwarzen
Hirsch aufgetaucht sei. Sie trug, und
jetzt passen Sie auf, einen Leopardenpelzmantel.«
Da haben wir’s,
dachte Kraus.
Die Prinzessin war
erst bei Doktor Meckel gewesen, wurde darauf vom Großen
Gustave hypnotisiert, hat dann um Mitternacht ihren Leopardenmantel
angezogen und die S-Bahn nach Spandau genommen, wo sie in
den Schwarzen Hirsch ging und danach nie
wieder gesehen wurde. Allerdings erklärte das immer noch
nicht, warum sie sich – wenn sie nach der Hypnose vollkommen
normal war, wie ihr Ehemann beteuerte – etliche Stunden
später freiwillig in die Hände ihres Entführers
begeben sollte.
»Was ist mit
Schumann und seinem Kumpan?«, erkundigte sich
Kraus.
Gunther
schüttelte den Kopf. »Nichts. Aber ich habe etwas von
einem Institut aufgeschnappt, an dem etliche der Doktoren
arbeiteten. Einen Namen habe ich nicht
herausbekommen.«
»Trinken Sie
weiter mit diesen Schweinen«, sagte Kraus. »Wir kommen
langsam weiter. Obwohl ich nicht genau weiß, ob ich dort
wirklich hinwill.«
NEUN
Als Kraus am Berliner
Zentrum für Psychoanalyse ankam, stellte er verblüfft
fest, dass Kurt dabei war, alle seine Bücher in Kisten zu
packen.
»Mensch!«,
sagte er. »Was ist denn hier los?«
Sein großer,
kahlköpfiger und bebrillter Cousin lächelte
ernst.
»Du siehst gut
aus, Willi. Besser, als die Polizei erlaubt. Was glaubst du denn,
was los ist? Ich mache dicht. Ich verschwinde. Und wenn du klug
wärst, würdest du das auch tun.«
Genau dasselbe hatte
Einstein erst gestern zu ihm gesagt. Seltsam! Er hatte Kurt, der
zwei Jahre jünger war als er, immer als den Einstein seiner
Familie betrachtet. Ein Genie, das an die Spitze seines
Berufsstandes aufgestiegen war, Artikel veröffentlichte und
Vorlesungen hielt. Und extrem rational war. Woher also diese
plötzliche Hysterie?
»Weißt du,
wer uns letzte Woche besucht hat? Sturmtruppen. Eine ganze Bande
davon. Es müssen so um die dreißig gewesen sein. Sie
sind am helllichten Tag hier hereingestürmt, die Gänge
auf und ab marschiert und haben gebrüllt: ›Nieder mit
der jüdischen Wissenschaft. Deutschland den
Deutschen!‹«
»Und deshalb
läufst du weg?«
Lag es daran, dass
Kraus im Krieg gekämpft hatte, sich den größten
Gefahren stellen musste, die ein Mann erleben konnte, und deshalb
diese Welle von Panik nicht spürte, die so viele andere
erfasst hatte?
Kurt unterbrach das
Packen. »Ja, Willi, das mache ich. Ich nehme Käthe und
die Kinder und werde nicht einmal
zurückschauen.«
Kraus hatte das
Gefühl, als öffnete sich ein Loch in seinem Magen.
»Wohin?«
»Nach
Palästina. Am 2. Januar fahren wir nach Bremerhaven. Von da
aus segeln wir nach Haifa. Meine Schwester hat uns ein Haus
gemietet, wo wir wohnen können. In Tel Aviv.«
Kraus hatte
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