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Schlafwandler

Schlafwandler

Titel: Schlafwandler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
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obwohl der Himmel strahlend blau
war. Als er an einer Ecke ein Leberwurstbrot verschlang, konnte er
immer noch Paulas warmen Körper in seinen Armen fühlen.
Er konnte verstehen, warum eine arme junge Frau sich der
Prostitution zuwandte. Aber die Lust, die sie aus dem Schmerz zog,
irritierte ihn. Es hatte ihm nicht gefallen, sie zu schlagen.
Keines der Male, die sie ihn darum gebeten hatte. Dennoch hatte es
sie unbestreitbar befriedigt. Aber warum? Warum zogen Menschen
Befriedigung aus Schmerz? War das Leben nicht schmerzlich genug,
auch ohne das durcheinanderzubringen, was wehtat und was sich gut
anfühlte?
    Trotz der Sonne und
den geschmückten Schaufenstern im Kaufhaus Tietz, in denen nur
mit Unterwäsche bekleidete Schaufensterpuppen auf einem
Rentier ins Jahr 1933 flogen, fühlte Kraus sich elend,
während er in Richtung Polizeipräsidium trottete. Er
verstand das Leben nicht. Und er wollte es auch nicht verstehen.
Wenn Paula nur anders wäre. Wie glücklich er mit ihr sein
könnte. Es war das erste Mal seit Vicki, dass er sich so
fühlte. So lebendig.
    Er blieb stehen, um
einen Doppeldeckerbus mit strahlend blauer Werbung für eine
Zahnpasta vorbeizulassen. Vielleicht kann ich ihr helfen, dachte
er. Vielleicht können wir uns gegenseitig helfen.
    Auf dem Alexanderplatz
herrschte bereits dichter Verkehr. Eine Reihe von in Lumpen
gehüllten Bettlern drängte sich dicht an die
Gebäude. Sie hielten den Passanten ihre Hüte entgegen.
Viele von ihnen waren Veteranen des Krieges. Sie hatten keine
Beine, keine Augen, keine Nasen. Mehr zum Bordstein hin
schlenderten Arbeitslose herum, Hunderte von ihnen. Sie rauchten
teilnahmslos und redeten sinnlos vor sich hin. Einige hatten Decken
auf dem Bürgersteig ausgebreitet und verkauften
Streichhölzer, Bleistifte oder Schnürsenkel. Andere
hielten handgeschriebene Schilder hoch, auf denen sie um Arbeit
baten. Die meisten lungerten einfach herum und warteten auf die
wöchentlichen Almosen oder darauf, dass die Suppenküche
am Ende des Häuserblocks öffnete. Sie hatten die
Hände in die Taschen geschoben, die Kragen hochgeschlagen, die
Hüte zurückgeschoben und ließen die Schultern
hängen. Die Depression hatte fast eine Million Berliner
arbeitslos gemacht. Ein Mann schlurfte mit all seinen
Habseligkeiten in einem schmutzigen Karton an Kraus vorbei. Er
hatte große, fast leblos blickende Augen. Noch ein
Schlafwandler, dachte Kraus.
    Eine Straßenbahn
rollte mit ohrenbetäubendem Quietschen an ihm vorüber.
Sie hatte mehrere Waggons angehängt, auf denen Plakate die
Passanten aufforderten, Wertheims gigantischen
Weihnachtsschlussverkauf zu besuchen, direkt gegenüber am
Alexanderplatz. Kraus’ Blick fiel auf einen Jungen, der an
einer Litfaßsäule lehnte, auf der Nazi- und
Kommunistenslogans miteinander wetteiferten. Arbeit, Freiheit und
Brot!, forderte das eine Plakat, Arbeit, Brot und
Freiheit! das andere.
    »Kai.«
Kraus blieb stehen und streckte die Hand aus.
    Der Junge blickte
erschrocken hoch und grinste dann über beide Wangen. Sein
großer, goldener Ring baumelte an seinem Ohrläppchen und
funkelte in der Sonne.
    »Inspektor
Kraus!« Er nahm die Hand des Polizisten und schüttelte
sie erfreut. »Es ist mir ein Vergnügen. Vor allem heute,
weil es ein so großartiger Morgen für mich
ist.«
    Selbst unter den
Myriaden von Seelen, die den Alexanderplatz bevölkerten, fiel
Kai auf. Er war einer von Berlins berühmten wilden Jungs, den
Banden heimatloser Jugendlicher, die sich zusammenrotteten, in
Kellern und verlassenen Gebäuden lebten und sich mit allem
Möglichen durchschlugen, von Straßentheater bis hin zur
Prostitution. Kai hatte seine eigene Bande, die »Roten
Apachen«, deren Revier am Alexanderplatz auf der Seite des
Kaufhauses Tietz lag. Sie waren an ihren roten Halstüchern und
dem schwarzen Make-up um die Augen leicht zu identifizieren. Kai
war ihr Häuptling, ein waschechter, blauäugiger Arier,
und er war immer besonders auffallend gekleidet. Mit einem
gestreiften, wollenen mexikanischen Poncho, einer gefiederten Kappe
und seinem Markenzeichen, dem goldenen Ohrring. Er war so
groß wie Gunther, aber viel muskulöser und hatte ein wie
gemeißelt wirkendes Gesicht. Kai war auf eine trotzige Weise
stolz auf seine Vorliebe für Jungen. Er und seinesgleichen
wurden von Leuten wie den Nazis zutiefst verabscheut, aber die
»Roten Apachen« waren sehr nützlich bei der
Ergreifung des Kinderschänders gewesen. Die SA dagegen hatte
trotz ihres lärmenden Getöses

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