Schlafwandler
ebenfalls
eine Schwester in Tel Aviv. Greta war mit ihrem Ehemann bereits
1925 emigriert, weil sie das Gefühl hatten, dass es für
Juden in Europa keine Zukunft gab. Kraus bekam Briefe von ihr, in
denen sie die erste hebräische Stadt seit der Antike
beschrieb, schilderte, wie frei man sich dort fühlte, wie
wunderschön sie war, direkt am Meer erbaut. Er mochte das
Meer, schon, aber …
»Schaffe
wenigstens die beiden Jungs aus dem Land!« Kurts Augen
schienen hinter den Brillengläsern zu brennen. »Hast du
eine Ahnung, was in der Schule vor sich geht? Sie machen die
jüdischen Kinder zu Ausgestoßenen.«
»Wir schicken
Erich wieder auf die jüdische Schule«, räumte Kraus
ein. »Direkt nach
Neujahr.«
»Willi, die Lage
wird sich nicht bessern, begreifst du das nicht? Sie haben den
Dschinn aus der Flasche gelassen, und es gibt keine
Möglichkeit, ihn wieder dorthin zurückzubekommen. Du
willst etwas über Hypnose wissen? Dann höre Hitler und
Goebbels zu. Von ihnen kannst du alles lernen, was du wissen musst.
Sie hypnotisieren Deutschland und verwandeln das Land in eine
Nation von Schlafwandlern.«
»Von Schleicher
sitzt jetzt am Ruder. Und er verachtet die Nazis.«
»Ach, was
soll’s! Du willst es nicht wahrhaben.«
»Was ich von dir
will, Kurt, ist eine Erklärung dafür, wie es möglich
ist, dass eine Person aus einer hypnotischen Trance erwacht und
sich scheinbar völlig normal verhält, bis sie einige
Stunden später plötzlich und unerklärlicherweise
wieder in dieselbe Trance verfällt.«
Kurt legte einen
Stapel Bücher beiseite. »Ganz einfach.« Er nahm
seine Brille ab und reinigte sie mit einem Taschentuch. »Das
nennt man posthypnotische Suggestion. Man gibt der Person unter
Hypnose einen versteckten Befehl. Ein Wort, ein Geräusch, eine
Tageszeit. Wenn dieser Befehl ausgelöst wird, ganz gleich, wie
viele Stunden später«, er setzte die Brille wieder auf
und starrte Kraus an, »empfindet sie einen unwiderstehlichen
Zwang, das zu tun, was man ihr befohlen hat.«
Erstaunlich. Die
hässlichen Stücke des Puzzles fügten sich
allmählich zusammen. Die bulgarische Prinzessin war mit ihrem
verstauchten Knöchel zu Dr. Meckel gegangen. Vermutlich hatte
er ihnen den Klub Hölle für das
Abendessen empfohlen. Gustave hatte sie als
»Freiwillige« auserkoren und ihr einen posthypnotischen
Befehl gegeben, so dass sie um Schlag Mitternacht ihren Mantel
anzog, mit der S-Bahn nach Spandau fuhr und in den Schwarzen
Hirsch ging. Kraus hatte es hier mit
einer Verschwörung zu tun, deren Komplexität er niemals
für möglich gehalten hätte. Und er war mehr als
froh, dass er sich von Schleicher anvertraut hatte, der jetzt die
gesamte Macht des deutschen Staates kontrollierte.
Bevor er sich von dem
letzten Angehörigen seiner weitverzweigten Familie
verabschiedete, musste er noch etwas fragen. Und das fiel ihm
schwer.
»Kurt, kannst du
mir erklären, warum eine Person sexuelles Vergnügen an
… Schmerz empfinden kann?«
»Dieses Thema
könnten wir mehrere Wochen diskutieren, ohne eine
abschließende Antwort zu finden. Aber ich fürchte,
dafür ist jetzt keine Zeit mehr, Willi. Es ist einfach keine
…«
Und als wollten sie
sein Argument unterstützen, begannen die Glocken der
Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in diesem Moment die volle
Stunde zu schlagen.
Dr. Schurze war so
freundlich, Kraus das goldene NSDAP-Abzeichen zu geben, das
angeblich an dem grauen Kittel der Meerjungfrau gefunden worden
war, um dessen Herkunft zu ergründen. Er war sogar so
freundlich, Kraus den Namen des Goldschmieds zu verraten, der alle
Naziparteiabzeichen herstellte, einen gewissen Biebermann in der
Dorotheenstraße. Kraus erreichte das Geschäft kurz vor
Ladenschluss und versicherte sich der liebenswürdigen Hilfe
von Biebermann persönlich. Er untersuchte das Abzeichen unter
einem Vergrößerungsglas und identifizierte die
Herstellungsnummer. Und er konnte mit absoluter Sicherheit sagen,
dass diese Anstecknadel aus vierundzwanzigkarätigem Gold
Hermann Meckel zum siebenten Jahrestag des Putschs vom 9. November
verliehen worden war, als Anerkennung für seine
langjährigen Dienste im medizinischen Stab der SA.
Den
unmissverständlichen Fingerzeig der Schuld gegen den Doktor
verstärkte weiterhin die Tatsache, dass dieser, laut seinem
Juwelier, just am Mittwochmorgen extrem aufgeregt ins Geschäft
gestürmt sei und Biebermann erzählte, dass er
unerklärlicherweise seine Anstecknadel bei einer Party in der
Nacht
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