Schlafwandler
wegbringen. Und deine Eltern sollten auch
weggehen.«
»Aber …
für wie lange?«
»Nicht lange.
Ein paar Wochen höchstens, hoffe ich. Ich besuche euch heute
Abend, und dann reden wir.«
»Du hast es doch
nicht vergessen? Heute Abend findet Stefans Weihnachtsspiel statt.
Du hast versprochen zu kommen.«
»Das mache ich
auch. Aber Ava, bis dahin … triff bitte die notwendigen
Vorbereitungen. Ich will, dass die Jungs morgen Nachmittag
Deutschland verlassen haben.«
»In der
Vermisstenabteilung laufen nur Dummköpfe herum«,
beschwerte sich Gunther, als er mit einem Stapel Akten in
Kraus’ Büro trat, der fast so hoch war wie er.
»Die können noch nicht mal eins und eins
zusammenrechnen.« Er platzierte den Aktenberg auf dem
Schreibtisch des Inspektors. »Wenn so der ganze Apparat
funktioniert, dann ist es kein Wunder, dass Leute wie die Nazis
glauben, die Polizei wäre unfähig.«
Kraus teilte Gunthers
Standpunkt keineswegs. »Was ist das alles, Gunther?«,
murmelte er zerstreut. Er musste unwillkürlich an Hoffnung
denken und an dessen Frau. Wohin konnten sie verschwunden sein?
Diese SA-Schläger würden vor nichts zurückschrecken.
Es war richtig, die Kinder außer Landes zu
bringen.
»Die
Schlafwandler! Es hat mich anderthalb Tage Arbeit zusammen mit
diesem Einfaltspinsel in Mutzes Büro gekostet, aber am Ende
habe ich all diese Akten ausgegraben. Können Sie sich das
vorstellen? Diese Leute sind wie Zombies seit über einem Jahr
von Berlins Straßen verschwunden, als hätten sie sich in
Luft aufgelöst, und diese Dummköpfe sind nie auf die Idee
gekommen, einen Zusammenhang
herzustellen.«
Kraus und Gunther
verbrachten den Rest des Tages damit, die Akten durchzusehen. Am
späten Nachmittag war das Bild nicht nur klarer, sondern auch
erheblich beängstigender geworden. In den letzten neun Monaten
waren drei Tänzerinnen verschwunden, eine Griechin, eine
Russin und eine Serbin. Alle hatte man in den Nächten ihres
Verschwindens »schlafwandeln« sehen. Mila Markovitch,
die Serbin, hatte in Nachtclubs gearbeitet, in denen auch der
Große Gustave auftrat. Man hatte gesehen, wie sie in eine
S-Bahnlinie stieg, die nach Spandau fuhr. Außerdem waren zwei
weibliche Angehörige einer tschechoslowakischen Sportgruppe
unter ähnlichen Umständen verschwunden, nach einer
»Nacht der Mysterien«, deren Gastgeber der Große
Gustave war. Sie fanden zwar keine Verbindung zwischen Gustave und
zwei weiblichen Zwillingspärchen aus Polen und Italien und
auch nicht zu einer ganzen ungarischen Zwergenfamilie, Artisten,
die ebenfalls allesamt verschwunden waren, nachdem Zeugen behauptet
hatten, sie hätten gewirkt, als würden sie »im
Schlaf« irgendwohin gehen. Nicht eine einzige blonde und
blauäugige Deutsche befand sich darunter. Und es gab
außer den Umständen ihres Verschwindens keinen einzigen
anderen Beweis, der auf Gustave gedeutet hätte. Wohin zum
Teufel schickte er diese Leute?
Und warum?
Kurz nach vier
tänzelte Ruta in ihr Büro, in der Hand einen großen
Umschlag, der gerade von einem Boten gebracht worden war.
»Jemand bekommt ein Päckchen ohne Absender«,
stichelte sie. Aber als sie es Kraus gab, fiel ihr auf, dass es
keineswegs ungekennzeichnet war. Auf der Rückseite prangte ein
Stempel mit der Absenderadresse und darunter ein großes,
schwarzes Hakenkreuz.
»Machen Sie es
nicht auf!«, stammelte sie. »Es könnte eine
Stinkbombe sein.«
In gewissem Sinne war
es das auch. Es waren die Personalakten des verschiedenen Dr.
Hermann Meckel.
Ernst Röhm hatte
also ein Versprechen gehalten, immerhin.
Kraus und Gunther
schoben die Aktenstapel zur Seite. Meckels Dossier war dick und
sterbenslangweilig. Eine ermüdend ausführliche
Familienbiografie reichte Jahrhunderte zurück, dazu gab es
einen kleineren Roman über seine medizinische Ausbildung,
einen Abriss über die Artikel, die er veröffentlicht
hatte, einschließlich des Aufsatzes über
Knochentransplantation, den Gunther bereits gefunden hatte. Und
dann noch mehr Seiten über die verschiedenen
Berufsverbände, denen er angehörte, die Komitees, denen
er vorstand, und die Kliniken, in denen er gearbeitet hatte. Eine
besonders anrüchig klingende Tätigkeit bei einem
sogenannten Institut für Rassenhygiene war vor sechs Monaten
ohne Angaben von Gründen beendet worden. Kraus nahm sich vor,
auch die Dossiers der anderen Orthopäden auf Verweise zu
diesem Institut zu überprüfen. Er wollte gerade
weiterblättern, als Gunther seine Hand
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