Schlafwandler
packte.
»Eine Sekunde,
Chef. Halten Sie die Seite mal gegen das Licht. Sehen Sie,
hier.«
In der Spalte der
Tätigkeiten enthüllte das helle Licht an der Stelle nach
dem Institut für Rassenhygiene eine Liste von Namen, die
weiß übertüncht worden waren, um sie unleserlich zu
machen. Kraus legte ein leeres Blatt Papier darüber und
versuchte, die Namen nachzuziehen, aber es kam nichts
durch.
»Yoskowitz«, sagten
beide gleichzeitig.
Kraus schob das Blatt
in einen Umschlag. »Also gut. Ich muss los, zur Schule meines
Sohnes. Das hier bringe ich vorher noch bei ihr vorbei. Und Sie
suchen weiter in diesen Akten.«
»Alles klar,
Chef. Und dann muss ich wieder zum Schwarzen
Hirsch .«
»Ach so. Armer
Gunther.«
»Ganz und gar
nicht. Zufällig nehme ich heute eine höchst attraktive
Begleiterin mit.«
Kraus hob eine Braue.
»Aber bringen Sie sie nicht in Schwierigkeiten, Gunther. Und
ich meine damit nicht die üblichen
Schwierigkeiten.«
»Ich weiß,
Chef. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Sie ist genau wie
ich. Eine überzeugte Republikanerin.«
Bessie Yoskowitz hatte
ein kleines Atelier nicht weit vom Präsidium entfernt in einem
hübschen neuen Bürogebäude, dem Alexander-Haus,
direkt gegenüber von Wertheims. Als Kraus das Bürohaus
betrat, fiel es ihm schwer, die Abteilung von SA-Braunhemden vor
dem berühmten Kaufhaus zu ignorieren, die Plakate mit
grotesken Karikaturen hochhielten und skandierten: »Jedes Mal,
wenn du bei Juden kaufst, schadest du deinen deutschen
Volksgenossen! Jedes Mal, wenn du bei Juden
…«
Yoskowitz war eine
zierliche Frau Anfang sechzig, die ihr graues Haar in einem
tadellosen Dutt auf dem Kopf trug und einen unverkennbar
polnisch-jüdischen Akzent hatte. Sie gehörte zu den
berühmtesten Papier-Konservatoren von Berlin. Durch ihre
geschickten Finger lief so ziemlich alles, angefangen von
ägyptischem Papyrus für das Pergamon-Museum bis hin zu
zahllosen Dokumenten der Polizei, wie zum Beispiel dem, das Kraus
ihr brachte.
»Verstehe.« Sie
betrachtete die Seite durch ein dickes
Vergrößerungsglas, wie es Juweliere benutzten.
»Natürlich ist das möglich. Ich verfüge
über Chemikalien, die weiße Tinte von der schwarzen
lösen. Aber es wird eine Weile dauern. Sehen Sie, was sich
hier an Arbeit türmt?«
»Bessie
…«
»Ich weiß.
Die Arbeit für die Kripo hat oberste Priorität. Es ist
Freitag. Also lassen Sie mir bis Montag Zeit. Das ist Heiligabend.
Wir schließen früh. Sagen wir also gegen Mittag,
hm?«
»Sie sind die
Beste.«
»Hören Sie
mal, Kraus.« Mit ihrer winzigen Hand hinderte sie ihn am
Gehen. »Bevor Sie sich verabschieden. Ich hoffe, Sie finden
das nicht unverschämt, aber so wie die Dinge stehen …
ich mache mir so meine Gedanken. Haben Sie zufällig eine
Ahnung, was wirklich passieren wird, politisch, meine
ich?«
Selbst hier im
sechsten Stock konnten sie das Echo vom Alexanderplatz
hören. »Jedes Mal, wenn du bei
Juden kaufst …«
Trotz ihrer
Wahlverluste – oder genau deswegen – hatten die Nazis
ihre antisemitischen Kampagnen verstärkt und riefen zum
Boykott gegen jüdische Geschäfte auf, belästigten
und verfolgten Juden in der Öffentlichkeit. Ein alter,
bärtiger Mann war vor einen Zug gestoßen worden und
gestorben. Solche Gräueltaten kamen unausweichlich auf die
Titelseiten und terrorisierten das mindestens eine Prozent der
deutschen Bevölkerung, das jüdisch war. Knapp
sechshunderttausend Menschen waren laut Hitler dabei, die deutsche
Nation zu zersetzen.
»Wissen Sie, ich
bin nach all den Jahren immer noch nicht eingebürgert. Und die
Hitleranhänger, ihr Name möge verflucht sein …
wenn sie jemals an die Macht kommen, werden sie Menschen wie mich
verfolgen, habe ich recht?«
»Das bezweifle
ich, Bessie.« Kraus tätschelte ihre kleine Hand.
»Ich glaube, sie haben wichtigere Beute im Sinn.« Mich
zum Beispiel, dachte er mürrisch.
»Aber sollten
Sie einen Hinweis darauf bekommen, aus welcher Richtung der Wind
weht …«
»Sie sind die
Erste, die es erfährt, das verspreche ich
Ihnen.«
An der
Jung-Judäa-Schule, die hinter der hohen Mauer einer
Seitenstraße in Schöneberg lag, schien an diesem Abend
jeder zweite Besucher dieselbe Frage zu haben. Grünberg, der
Buchhalter, Steiner, der Klempner, Rosenbaum, der
Versicherungsvertreter. Stefans Lehrer, Stefans Direktor, selbst
Stefans Rabbi. Sie alle näherten sich Kraus irgendwann mit
derselben Bitte um einen Rat. Was sollen wir machen? Was? Was
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