Schlafwandler
wie er
fand, der zweitteilige, wollene Anzug mit Seidenrevers und einem
Seidenstreifen an der Seite der Anzughose. Als er die Abteilung
gegen Viertel vor elf verließ, war sogar sein Wagen mit neuen
Kennzeichen ausgestattet worden, die seine Identität als
Siegfried Grieber, Hauptaktionär von Ruhrkohle und Koks,
bestätigten.
Um elf wartete er vor
Paulas Wohnung. Die Leute auf der Straße starrten ihn an. Es
kam in dieser Gegend nicht alle Tage vor, dass ein BMW 320
Sportcoupé mit einem Mann im Abendanzug hier
parkte.
Als Paula herunterkam,
hatte sich eine kleine Menschenmenge versammelt.
»Seht mal, Paula
wird ein Filmstar!«
Auf jeden Fall war sie
wie einer herausgeputzt. Ihr enges, pinkfarbenes Abendkleid hatte
große Puffärmel, die mit Schleifen geschmückt
waren, und ihr Ausschnitt endete Gott weiß wo. Über
ihren Schultern lag ein langes, schwarzes Cape, das mit
Marabufedern verziert war.
»Heiratest
du?«, fragte eine ältere Frau.
»Ja,
genau.« Paula streckte die Hände aus, als wäre sie
eine Sängerin, die ihre bewundernden Anhänger
grüßte. Kraus sah, dass sie schon wieder diese
verdammten, schwarzen Spitzenhandschuhe trug. »Ich fahre zur
Kirche. Wünscht mir Glück!«
»Mein
Gott!«, rief sie, nachdem sie auf den Beifahrersitz
geklettert war. »Ich erkenne dich ja kaum!« Sie
musterte ihn und lachte schallend. »Es ist wirklich
erstaunlich. Man sieht nicht einmal, dass du
…«
»Dass ich ein
Jude bin?«
»Genau.«
»Darum geht es
doch, oder?«
»Natürlich,
Liebling. Ich wollte dich auch nicht kritisieren.«
»Die Nase ist
übrigens ganz die alte.«
»Du hast eine
perfekte, entzückende Nase. Habe ich jemals etwas anderes
behauptet. Und … wie sehe ich aus?«
Er ließ den
Motor an. »Wie eine echte
Nazi-Schönheit.«
»Was soll das
denn heißen? He, bekomme ich nicht mal einen
Kuss?«
Er drückte seinen
Mund auf ihre Lippen, legte den Gang ein und fuhr los. Er wollte
jetzt keinen Streit mit ihr anfangen. Aber er hatte kaum die erste
Ecke umkurvt, als sie merkte, dass etwas nicht stimmte.
»Was ist los mit
dir, Kraus? Du hast die Sache mit dem Geld
herausgefunden?«
Er schwieg.
»Du glaubst, ich
hätte es gestohlen, richtig? Da liegst du falsch. Ich habe
versucht, dich im Büro anzurufen, aber du warst bereits weg.
Ich musste mir ein Kleid kaufen. Ich konnte heute nicht dahin gehen
und wie eine billige Sekretärin oder wie eine Telefonistin
aussehen. Auf der Jacht sind Grafen und Baroninnen. Glaubst du
etwa, ich wollte es dir nicht sagen?«
Kraus schnürte es
die Kehle zu. »Diese Garderobe hat dreihundert Mark
gekostet?«
»Nicht ganz.
Etwas weniger als hundert. Ich habe den Rest noch zu Hause liegen
und gebe ihn dir später.«
Kraus biss die
Zähne zusammen und legte gereizt den dritten Gang ein. Er
wusste nicht, was er glauben sollte.
Der Berliner Jachtklub
lag am Wannsee. Das war der beliebteste der vielen Seen rund um die
Stadt. In der Flotte der auf Hochglanz polierten Schiffe fiel der
Kabinenkreuzer des Großen Gustave, Das Dritte
Auge , auf
wie das Taj Mahal. Der Kreuzer war doppelt so lang, doppelt so hoch
und hatte doppelt so viele Flaggen und bunte Fähnchen als die
anderen Boote. Bewaffnete SA-Wachen kontrollierten die Einladungen
der gutgekleideten Menschen, die darauf warteten, an Bord zu
gehen.
»Reg dich nicht
auf, Kraus, bitte.« Paula nahm seine Hand, als sie die
Laufplanke hinaufschritten. »Denk daran, wir machen das hier
zusammen.«
»Halt deine Nase
da raus«, sagte er ärgerlicher, als ihm klar war.
»Das Letzte, was ich jetzt brauchen kann, ist, dass du auch
noch verschwindest.«
»Meine
Nase«, sie ließ kühl seine Hand los, »steckt
bereits drin.«
Um zwölf Uhr
setzte die Jacht die Segel. Es mussten etwa sechzig Personen an
Bord sein, obwohl es einem wegen der beiden geräumigen
Unterdecks nicht so vorkam. Paula hatte nicht gescherzt, was die
Gäste anging. Schon während der ersten Minuten erkannte
Kraus mehr Aristokraten als auf einem Diplomatenball. Den Prinzen
von Pommern, den Grafen von Koblenz, Baron und Baronin von
Brandenburg und Sachsen. Unter den Gästen befanden sich auch
Vertreter der mächtigsten Industriedynastien Deutschlands:
Thyssen, Krupp, Porsche und dazu ein Schwarm von Bühnen- und
Stummfilmschauspielerinnen, deren Roben so weit ausgeschnitten
waren, dass Paulas Dekolleté daneben fast schon schicklich
wirkte. Dutzende von Kellnern mit Turbanen, von denen Quasten
herunterbaumelten, servierten Champagnerflöten
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