Schlafwandler
Als
hätte etwas einen blanken Nerv getroffen und würde jetzt
mit einer eisernen Zange zupacken.
»Kraus«,
sie flüsterte immer noch. »Bring mich von diesem Boot
herunter. Egal wie, selbst wenn wir schwimmen
müssen.«
Bevor sie auf ihren
abendlichen Törn ging, sollte Das Dritte Auge noch einige
Nachzügler von der Pfaueninsel abholen. Kraus und Paula waren
die Einzigen, die von Bord gingen. Zwanzig weitere Gäste in
Feierlaune drängten sich an ihnen vorbei, um an dem
Vergnügen teilzuhaben. Kraus bemerkte unter ihnen sechs
Offiziere in schwarzer Ausgehuniform, die jeder eine
juwelenbehängte Blondine eskortierten. Als sie sich
begegneten, stieß einer von ihnen Kraus an der Schulter
an.
»Entschuldigen
Sie«, sagte er lächelnd und tippte sich gegen die
SS-Offiziersmütze, während er weiter die Laufplanke
hinaufstieg. Kraus erkannte ihn augenblicklich an dem breiten Spalt
zwischen seinen Vorderzähnen.
Es war Josef, der Mann
aus dem Schwarzen
Hirsch.
Als das Schiff
ablegte, blieben Kraus und Paula auf der Pier zurück. Er hatte
seinen Arm um ihr Cape gelegt, das im Wind flatterte. Es war nicht
ganz vier Uhr nachmittags, und es war ungewöhnlich warm, fast
schwül. Als die Klänge der Jazzband auf dem Schiff
verebbten, spürte er, wie Paulas Atem sich normalisierte und
ihr Zittern nachließ. Er riss sich die Perücke herunter
und fuhr sich mit den Fingern durch sein dunkles, lockiges Haar.
Ihm ging dieser Satz aus dem psychologischen Artikel über
Masochismus durch den Kopf: die neurotische
Erotisierung eines Kindheitstraumas.
Armes Mädchen,
dachte er. Gott weiß, was du durchgemacht hast.
Doch der Ort, an dem
sie sich befanden, war wunderbar. Der Wind war so frisch, und die
Kiefern waren so grün. Die winzige Pfaueninsel, zwischen dem
Wannsee und Babelsberg gelegen, war Ende des 18. Jahrhunderts in
ein Naturschutzgebiet umgewandelt worden. Jetzt war es ein Park und
wurde allgemein als Apotheose der deutschen Romantik betrachtet.
Während sie über die pittoresken Pfade schlenderten,
lehnte sich Paula in ihrem pinkfarbenen Kleid an ihn und
stützte sich haltsuchend auf seinen Arm. Sie kamen an
smaragdgrünen Feldern vorbei, auf denen Pfauen herumschritten,
an sonnenbeschienenen Wiesen und kleinen Gartenpavillons, die den
Ruinen mittelalterlicher Schlösser nachempfunden
waren.
Alles war so ruhig, so
friedvoll.
Paula begann zu
weinen. »Warum kann nicht die ganze Welt so wunderschön
sein wie das hier?«
Warum nicht? Er
reichte ihr ein Taschentuch.
Das war die
älteste Frage der Welt.
Vom anderen Ende der
Insel brachte eine kleine Fähre sie aufs Festland zurück.
Paula fühlte sich immer noch nicht gut und wollte nach Hause.
Sie mussten mit der S-Bahn nach Wannsee fahren, um dort
Kraus’ Wagen abzuholen. Unterwegs sprachen sie nicht viel.
Abgesehen davon, dass Kraus Mitleid für sie empfand, kochte er
auch vor Enttäuschung. Es war ein fruchtloser Nachmittag
gewesen. Jedenfalls hatte er keinerlei feste Beweise gegen Gustave
gefunden. Er hatte so gut wie nichts in Erfahrung gebracht,
außer einem eher deprimierenden Blick in die Zukunft. Und
einer weiteren Lektion über die Verderbtheit der menschlichen
Natur.
Als wenn er das
gebraucht hätte.
Auf dem Weg in die
Stadt gingen ihm etliche verschiedene Gedanken durch den Kopf. Etwa
um diese Zeit sollten seine Söhne in Paris eintreffen,
zusammen mit Ava und den Gottmanns. Wann würde er sie
wiedersehen? Und wie lange mussten sie wegbleiben? Er vermisste sie
schon jetzt so sehr, dass es wehtat. Aber bis jetzt war er trotz
all seiner Bemühungen nicht weitergekommen, was die Fälle
der Meerjungfrau und der bulgarischen Prinzessin anging. Das hatte
ihm auch keine Pluspunkte bei seinem Vorgesetzten eingebracht. Im
Gegenteil, man hatte ihm unmissverständlich klargemacht, dass
von Hindenburg über Kraus’ ausbleibende Resultate sehr
enttäuscht war. Der König von Bulgarien hatte ein
Telefonat mit dem Reichspräsidenten sogar barsch beendet und
einfach aufgelegt. Das war eine ungeheure Demütigung. Mit
anderen Worten, Kraus war dabei, einen internationalen Zwischenfall
auszulösen. Horthstaler hatte von Hindenburg daran erinnert,
dass Kraus viele Monate gebraucht hatte, um den Kinderschänder
zu fassen, und dass in der Zwischenzeit viele Kinder ihr Leben
verloren hatten. Nur, war das ein Kompliment gewesen oder eine
Beleidigung?
In diesen Zeiten war
es schwer auszumachen, wer zu einem hielt.
Er zog in
Erwägung, noch mehr seiner Beamten auf
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