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Schlafwandler

Schlafwandler

Titel: Schlafwandler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
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unten in den Satz. Auf
dem Dach steht die größte Radioantenne Europas. Und sieh
dir nur diese Fernschreiber an. Sie stehen keine Sekunde
still.«    
    »Ich habe
gehört, dass Ullstein die Hälfte seiner jüdischen
Angestellten entlassen hat«, murmelte Kraus.
»Einschließlich Ava.«
    Fritz ließ den
Kopf hängen. Er sah aus, als hätte er eine bedeutsame
Nachricht zu übermitteln, aber all seine Leitungen hätten
sich verheddert. »Du musst das verstehen«, stammelte er
und drückte auf den Fahrstuhlknopf für das oberste
Stockwerk, wo die Ullsteins und auch er ihre Büros hatten.
»Wir hatten kurz vor Weihnachten eine richtige Invasion hier
im Haus.«
    Als sie aus dem
Fahrstuhl in den Gang traten, sah Kraus Arbeiter, die etliche
riesige Hakenkreuze an der Wand übertünchten und eine
gigantische Parole, deren rote Farbe wie Blut aussah, das von den
Buchstaben heruntertropfte. NIEDER MIT DER JÜDISCHEN
VORHERRSCHAFT!
    »Ullstein
repräsentiert alles, was diese Faschisten hassen. Demokratie.
Fortschritt. Intellektuelle Freiheit. Und natürlich …
Juden. Die Firma hat ein brutales Opfer gebracht und versucht, sich
zurückzunehmen. Natürlich werden alle, die ihre Arbeit
verloren haben, wieder eingestellt, sobald sich der Sturm gelegt
hat.«
    Wenn schon
Männer, die so mächtig sind wie die Ullsteins, sich vor
den Nazis ducken, dachte Kraus, wer soll sich dann noch gegen sie
stellen?
    Ich vielleicht, sagte
er sich, als er Fritz in sein Büro folgte.
    Wenn er die Bestie aus
ihrer Höhle locken konnte, die Gina Mancuso verstümmelt
hatte, konnte er damit vielleicht ihre ganze lausige Operation
unterminieren.
    Samson und die
Philister.
    Kraus und
Goliath.
    Fritz hatte bereits
eine riesige Landkarte von Berlin-Brandenburg und dem Havellauf an
einer Wand befestigt. Er schloss die Tür hinter sich, und die
beiden Männer gingen an die Arbeit.
    Aufgrund der
durchschnittlichen Strömung im November, erklärte Fritz,
schätze er, dass der weiteste Punkt vom Fundort, an dem Gina
Mancuso ins Wasser gegangen sein könnte, etwa dort liege. Er
deutete auf die Kleinstadt Oranienburg, etwa fünfzehn
nautische Meilen von Spandau entfernt. Dann fuhr er mit dem Finger
über die Karte nach Süden. Beide Ufer wurden
kilometerweit von Wäldern gesäumt, waren von zahlreichen
Wasserläufen, Kanälen und winzigen Marschinseln
durchzogen.
    Trotz des regen
Schiffsverkehrs, bei dem es sich hauptsächlich um Barken
handelte und im Sommer um jede Menge Vergnügungsboote,
Touristenschiffe, Jachten, Segelboote und so weiter, war die
Landschaft am Fluss nur spärlich besiedelt. Auf der Halbinsel
Tegel gab es eine kleine Ferienhaussiedlung. Fritz deutete mit dem
Finger darauf. Und hier, etwa fünf Kilometer weiter
südlich, lag ein Bootshaus, das der Rudermannschaft der
Universität gehörte. Dann war da noch ein
Schießstand der Armee, der Schießplatz Tegel, etwas
weiter draußen. Am Ostufer führte nur eine Straße
entlang, von Tegel nach Spandau, und eine weitere am Westufer, von
Potsdam bis nach Pichelsdorf hinaus. Aber nicht weiter. Durch den
dichten Spandauer Forst führten nur Nutzwege der
Forstwirtschaft und Waldwege. Vermutlich war dieser Wald so etwas
wie eine Wildnis, jedenfalls im Vergleich zum
großstädtischen Berlin.
    Kraus überflog
die Linien und Symbole, die sich vor ihm ausbreiteten, wie ein
Kabbalist, der versuchte, das Universum zu entziffern. Irgendwo da
draußen hatte Gina Mancuso beschlossen, ihrem Leben ein Ende
zu setzen. Aber wo?
    »Fritz«,
murmelte Kraus, fast wie zu sich selbst und ohne es wirklich zu
wollen, »hast du jemals von einer Morphiumsüchtigen
gehört, die ihre Sucht besiegt hat?«
    Fritz drehte sich zu
ihm herum. »Du meinst … die schwarzen
Handschuhe?«
    Kraus
nickte.
    »Ich hatte so
ein Gefühl.« Fritz schüttelte den Kopf.
»Mädchen wie sie, besonders Stiefelmädchen,
spritzen sich immer zwischen die Finger. Weil sich die Fetischisten
über ihre Füße hermachen. Aber keiner kommt von dem
Zeug los, Willi. Ich habe viele gekannt, die es versucht haben. All
die Jungs, die sich im Krieg an das Zeug gewöhnt haben. Der
Entzug ist schlimmer als eine Schlacht. Entweder bringt er sie um,
oder sie werden rückfällig, und dann besorgt die Nadel
ihr Ende. Es ist ein sehr hässliches
Schicksal.«
    Ja, hässlich,
dachte Kraus. Sie hätte eine zweite Dietrich werden
können.
    »Was ist das
da?« Kraus deutete auf zwei kleine Inseln in einem Flussarm,
einige Kilometer südlich von Oranienburg.
    Fritz

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