Schlafwandler
Nervenheilanstalten
tatsächlich bei den Schlafwandlern des Großen Gustave
gelandet waren … Neben einer solchen Massenentführung
verblasste jedes andere Verbrechen, von dem er jemals gehört
hatte.
Wohin konnten sie so
viele Menschen gebracht haben?
Und aus welchem Grund
hatten sie es getan?
Nicht nur die reine
Logistik, sondern auch die Motive, jedenfalls so weit er eine
Ahnung davon bekam, hatten eine unfassbare Dimension. Der
Kinderschänder war von keinem besonderen Motiv getrieben
worden, sondern nur von einem pathologischen Zwang. Aber ein
einziger Nachmittag in der Preußischen Staatsbibliothek
genügte, und Kraus begann zu ahnen, dass der Wahnsinn, mit dem
er es diesmal zu tun hatte, keineswegs irrational war.
Genaugenommen war er das Gegenteil davon: Er entsprach einer bis
ins Extreme gesteigerten Rationalität. Einer fanatischen
Ideologie, die sich das Mäntelchen der Wissenschaft
umgehängt hatte.
Das Institut für
Rassenhygiene war von einer Organisation gegründet worden, die
sich »Bruderschaft des Ordens derer Deutschen Blutes«
nannte. Auch hier war keine Adresse angeführt, aber es war
eine nationale Organisation, die sich laut ihrem Pamphlet der
Wissenschaft der »Rassenstärkung« durch selektive
Fortpflanzung verschrieben hatte. Eugenik. Ihre zwölftausend
Mitglieder glaubten fest daran, dass die deutsche Nation von
»niederen Genen« angegriffen wurde. 1930 hatte ihr
anonymes Vorstandskomitee ein ebenfalls anonymes Institut von
Biologen, Genetikern, Psychologen und Anthropologen aufgebaut,
deren Aufgabe darin bestand, konkrete Vorschläge zu
erarbeiten, mit denen »die Volksgesundheit durch die
Auslöschung degenerierter genetischer Übertragung zu
stärken« wäre.
Unter den
Vorschlägen, die in einem Manifest von 1931 vorgelegt wurden,
kurz bevor das Institut vollkommen vom Erdboden zu verschwinden
schien, war ein sogenanntes »Gesetz zur Verhinderung
genetischer Störungen«. Kraus konnte kaum glauben, was
er da las. Jeder Deutsche, der unter Schizophrenie, manischer
Depression, Epilepsie, angeborener Blindheit, Taubheit,
körperlichen Missbildungen, Alkoholismus oder Hämophilie
litt – also etwa viereinhalb Millionen Menschen –,
sollte nach Ansicht der Ärzte dieses Instituts sterilisiert
werden, wenn nötig gewaltsam, damit seine Gene aus dem
Rassenpool ausgemerzt wurden. Die praktischste Methode für ein
solch umfassendes Programm, schrieben sie, wurde gerade ermittelt.
Kraus zitterten fast die Knie. Sie ermittelten also gerade, wie sie
viereinhalb Millionen Menschen sterilisieren
konnten?
Außerdem wurde
ein »Gesetz zum Schutz des Blutes« vorgeschlagen, um
geschlechtliche Beziehungen zwischen Deutschen und Juden unter
Strafe stellen zu können. Nur die »vollständige
Eliminierung der jüdischen Rasse aus Deutschland kann die
semitische Bedrohung für deutsches Blut
abwenden«.
Diese angeblichen
Wissenschaftler erklärten weiter: »Die menschliche
Geschichte wird durch Rassen determiniert. Die Rasse ist die
entscheidende Kraft. Alle großen Nationen wehren sich gegen
die Vermischung von Genen. Das ist den Menschen ebenso angeboren
wie den Tieren.«
Kraus fiel sein
Zahnlücken-Freund aus Spandau wieder ein, Josef, der sich an
dem Nachmittag die Laufplanke zur Jacht des Großen Gustave
hinaufgedrängt hatte, in einer schwarzen Offiziersuniform. Als
er ihn im Schwarzen Hirsch zum ersten Mal gesehen
hatte, trug er unter seinem Wollmantel einen Arztkittel, da war
Kraus sich ganz sicher.
»Herr
Reichskanzler.« Er legte seine Hände auf den
Schreibtisch und beugte sich zu dem müde wirkenden General
vor. »Verfügt die SS über eine medizinische
Abteilung?«
Kraus verließ
die Reichskanzlei mit dem bewaffnet, was er brauchte: von
Schleichers Unterstützung.
»Ich bin so
dicht davor«, der Kanzler hatte es ihm tatsächlich auf
einem Metermaß gezeigt, »die NSDAP zu vernichten. Dank
der drei Wahlhürden, über die ich sie dieses Jahr habe
springen lassen, haben sie etwa neunzig Millionen Reichsmark
Schulden angehäuft. Ihre Wahlhelfer erlahmen. Sie haben die
Aura der Unbesiegbarkeit verloren. Und jetzt …«, er
ließ das Metermaß in seine Handfläche klatschen,
»habe ich den Parteisekretär Strasser dazu gebracht, die
Partei zu verlassen. Er wird ein Drittel der Mitglieder mitnehmen.
Wenn wir jetzt diesen kriminellen Ring aufdecken könnten,
Kraus, dann wäre das der letzte Tropfen, der das Fass zum
Überlaufen bringt. Davon bin ich
überzeugt.«
Doch da so
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