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Schlafwandler

Schlafwandler

Titel: Schlafwandler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
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betrachtete sie.
Eine der Inseln hatte ein Symbol für ein Gebäude mit
einem großen »K« darauf, für Krankenhaus.
Die andere zierten mehrere Kreuze, was auf einen Friedhof
hindeutete. Im Unterschied zum Rest der Landschaften auf der Karte
hatten die beiden Inseln jedoch keine Namen.
    »Das ist
seltsam.« Fritz sah sich im Raum um, trat dann an eines der
Bücherregale und zog einen gigantischen Atlas heraus. Deutschland,
1900. Er
blätterte ihn durch und fand rasch eine entsprechende Karte
von diesem Abschnitt des Havellaufs. Die Namen der Inseln waren
deutlich zu erkennen. »Anstaltsinsel« und »Insel
der Toten«.     
    »Ein
Armenfriedhof und eine Irrenanstalt. Sie müssen schon seit
Jahren verlassen sein«, erklärte Fritz. »Ich kann
mich nicht erinnern, die Inseln vom Fluss aus jemals gesehen zu
haben.«
    »Das konntest du
auch nicht, es sei denn, du wärst in diesen Kanal eingebogen.
Die Halbinsel verdeckt sie.«
    »Ich weiß
nicht.« Fritz zuckte mit den Schultern. »Die Inseln
könnten ebenso unser Ziel sein wie ein Dutzend andere Stellen
im Umkreis. Die Schießanlage der Armee. Die Feriensiedlung.
Vielleicht sogar die Gerberei hier.«
    Kraus legte ihm den
Arm um die Schulter. »Fritz, ich werde Paula als Lockvogel
benutzen. Es ist die einzige Möglichkeit. Gustave tritt an
Silvester in der Weißen Maus auf. Bist du
dabei?«
    An der
Kochstraße nahm Kraus die U-Bahn zum Alexanderplatz. Wie
friedlich der Platz unter dem blauen Himmel aussah, mit den gelben
Straßenbahnen und Bussen und den Zeitungsverkäufern, die
die Schlagzeilen der Frühausgaben herausschrien:
»STRASSER GEHT! NAZIS IN AUFRUHR!« Plötzlich
durchflutete ihn Zuversicht. Fritz’ Quellen hatten recht
gehabt. Vielleicht gab es doch Hoffnung für 1933. Vielleicht
würde Paula es schaffen, den Lockvogel zu spielen. Vielleicht
würde die ganze Operation wie ein Uhrwerk funktionieren. Sie
würden die Kriminellen vor Gericht bringen, und ganz
Deutschland würde erkennen, was das für Kreaturen waren.
Die NSDAP würde zerfallen. Die Republik würde gedeihen.
Die Welt wäre wieder in Ordnung. Er blieb vor dem von Torten
überquellenden Schaufenster des Café Rippa stehen. Er erinnerte
sich an das Berlin von vor ein paar Jahren – das dynamische,
blühende Berlin. Keine wirtschaftlichen Katastrophen, keine
Straßenschlachten. Aber dann sah er vor dem Kaufhaus Wertheim
erneut die Menschenkette von Braunhemden, die deklamierten: »Jedes Mal,
wenn du bei Juden kaufst …«
    Als er die Treppen des
Alexander-Hauses hinaufstieg, schockierte ihn das Ausmaß der
Zerstörung, das eine Horde dieser Truppen kurz vor
Sonnenaufgang an diesem Morgen angerichtet hatte. Sie waren in
sämtliche jüdischen Büros eingebrochen, hatten die
Schreibtische umgeworfen, Schreibmaschinen zertrümmert und die
Unterlagen in den Fluren verstreut. Wo die Polizei gewesen war?
Draußen. Sie hatten Schmiere gestanden. Auch die arme Bessie
Yoskowitz war nicht verschont geblieben. Ihre Werkstatt war
zertrümmert, ihre Chemikalien waren überall verstreut
worden, man hatte zudem wertvolle Dokumente zertrampelt.
    »Eine kleine
Fliege wie mich.« Sie sah Kraus verbittert an. »Sie
sagten, sie würden sich nicht mit mir abgeben, nein? Also geht
es jetzt wieder zurück nach Polen. Da haben sie zwar auch jede
Menge Antisemiten, aber bis jetzt Gott sei Dank keine Nazis.
Trotzdem, machen Sie sich keine Sorgen, Inspektor. Ich habe Ihren
Auftrag erledigt.« Sie schlurfte durch die Glasscherben und
kam mit einem Umschlag zurück. »Hier.« Sie reichte
ihm das Papier. »Hat keinen Kratzer
abbekommen.«
    »Danke, Bessie.
Das hier … tut mir so leid.«
    »Ja. Mir
auch.«
    Kraus gab ihr sein
ganzes Bargeld, das er bei sich hatte, fast hundert Mark.
»Hier«, sagte er nachdrücklich. »Nehmen Sie
das! Und bleiben Sie gesund!«
    Die vielen
Arbeitslosen, die draußen auf der Straße
umherschlenderten, bewegten sich unwillkürlich zum Rhythmus
der Nazigesänge. Kraus lehnte sich an eine
Litfaßsäule und öffnete den Umschlag.
    Yoskowitz hatte
großartige Arbeit geleistet. Sie hatte die weiße Tinte
vollkommen von der schwarzen entfernt und ihm eine gut leserliche
Liste von Meckels Kollegen am Institut für Rassenhygiene
geliefert. Es waren sechs. Von fünfen hatte er noch nie etwas
gehört, aber der dritte Name auf der Liste … Dr. Oscar
Schumann. Außerordentlicher Chirurg für Orthopädie
an der Charité. Das beweist noch nicht viel, sagte er sich,
schob das Papier wieder in den Umschlag

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