Schlafwandler
sie ist.«
»Wirklich?« Kai
rückte die rote Feder etwas zur Seite.
»Was willst du
mir sagen, Kai?«, fragte Kraus, als der Junge Anstalten
machte zu gehen.
»Ganz
einfach.« Kai legte seine große Hand auf den Tisch, und
sein blauer Blick schien Kraus zu durchbohren, während sein
goldener Ohrring baumelnd das Licht reflektierte. »Haben Sie
jemals zwischen ihren Fingern nachgeschaut,
Inspektor?«
Er zwinkerte ihm
einmal mit seinem dunklen, kajalumrandeten Auge zu und
verschwand.
Endlich kam Paula aus
dem Bad. Sie hatte einen Kimono angezogen und sich das Haar
hochgesteckt. Ihre Augen waren so matt wie Wachspapier. Und ihre
Wange glühte rot, wo er sie geschlagen hatte.
»Hmm. Jetzt
fühle ich mich besser.« Sie schwankte auf ihn zu.
»Gib mir etwas zu trinken, Kraus. Möchtest du mich noch
ein bisschen schlagen?«
»Zieh diese
verdammten Handschuhe aus!«, befahl er. »Ich will deine
Hände sehen!«
»Nein.«
Sie schob die Hände hinter den Rücken und drückte
sich an die Wand.
»Ich sagte: Zieh
die Handschuhe aus!«
Er packte ihre
Arme.
Sie stieß einen
schrillen Schrei aus.
»Halt die
Klappe!« Er hielt ihr den Mund zu.
Mit der freien Hand
riss er ihr einen Handschuh herunter. Die dünne Spitze zerriss
ohne großen Widerstand. Dann hob er ihre Hand gegen das
Licht. Ihr Widerstand erlosch, und sie verstummte.
Zwischen allen Fingern
sah er die dichten, dunklen Punkte der Einstiche.
Sie entzog ihm die
Hand. »Jetzt sag bloß nicht, du hättest es nicht
gewusst.« Sie sah ihn böse und verbittert an.
Er ließ den Kopf
hängen. Er hatte es nicht gewusst. Er hatte absolut keine
Ahnung gehabt.
Es sei denn …
dass er es einfach nicht zugeben wollte.
All diese
Ausflüge ins Badezimmer.
»Also, jetzt
kennst du die Wahrheit. Deine wunderschöne Paula ist
morphiumsüchtig. Seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr.
Willst du dich immer noch um sie kümmern? Sie heiraten?«
Sie rang nach Atem. »Das glaube ich kaum.«
Dann packte sie ihn,
drehte ihn herum und zwang ihn, sie anzusehen.
»Deshalb musst
du es mich tun lassen, Kraus! Du könntest niemals mit jemandem
wie mir glücklich werden. Das kann niemand. Nicht mal ich
selbst. Um Himmels willen, versage mir nicht die einzige Chance,
die ich habe, etwas Nützliches mit meinem
…«
Er wandte sich von ihr
ab.
»Wir
könnten dieser ganzen perversen Geschichte ein Ende
bereiten.« Sie schluchzte bitterlich. »Denk doch nur,
wie viele Leben wir …«
»Nein. Nein und
abermals nein!«
Beim Klingeln des
Telefons fuhren sie beide zusammen.
»Bitte
entschuldigen Sie, dass ich Sie so spät noch störe,
Chef.« Es war Gunther. »Ich wollte Sie nur informieren
… es gab wieder eine Schlafwandlerin. Diesmal eine
Griechin.«
Kraus drehte sich fast
der Magen um. »Kennen Sie ihren Namen?«
»Ja. Von
Auerlicht. Melina. Sie ist auch noch eine
Gräfin.«
»Danke,
Gunther.« Kraus legte auf und sah in Paulas umwölkte
Augen. Sie flehte ihn förmlich an, einzuwilligen.
»Bitte, Kraus.
Bitte, lass mich gehen.«
»Also
gut.« Er quetschte die Worte durch seine Kehle, die wie
zugeschnürt war. »Aber nur, nachdem ich alles bis ins
kleinste Detail vorbereitet habe. Ich will dich nicht als Opferlamm
dorthin schicken.«
»Oh,
Kraus!« Sie umarmte ihn leidenschaftlich. »Du bist so
ein wunderbarer Junge!«
Am nächsten
Morgen stattete er Fritz einen Besuch ab.
Alle kannten das
Verlagshaus Ullstein. Elf Zeitungen. Acht Magazine.
Ullstein-Bücher. Der unangefochtene Verlagsgigant in
Deutschland. Kraus betrat das gewaltige Verlagsgebäude in der
Kochstraße und stieg die große Treppe hinauf. Die
Wände waren gesäumt von Porträts der berühmten
Ullstein-Brüder, von denen jeder eine andere Abteilung des
Konzerns leitete. Von ganz oben blickte ein lebensgroßes
Porträt ihres Vaters Leopold Ullstein auf sie herunter, der
den Verlag 1877 gegründet hatte. Direkt unter diesem
Porträt wartete Fritz auf ihn. Sein langer Schmiss wirkte hier
vollkommen deplatziert.
»Willi!«,
rief er, breitete die Arme aus und umarmte seinen Freund, als
hätten sie sich schon seit Jahren nicht mehr gesehen.
»Wie oft habe ich dich gebeten, mich endlich einmal hier zu
besuchen!«
Aufgeregt wie ein
Zwölfjähriger bestand Fritz darauf, Kraus eine
Führung durch das Nervenzentrum von Ullstein zu geben.
»Durch diese Telefonzentrale«, prahlte er, als
wäre er selbst der sechste Ullstein-Bruder, »laufen
täglich dreiundvierzigtausend Anrufe. Und durch diese
Röhren befördern wir Artikel nach
Weitere Kostenlose Bücher