Schlafwandler
es in den Knochen.« Sie packte
Kraus’ Revers. »Ich komme zu dir zurück, das
verspreche ich dir.«
»Allerdings. Und
zwar sobald Gustaves Vorstellung zu Ende ist. Sorge nur dafür,
dass er dich als Freiwillige aussucht.«
» Nie rozsmieszaj
mnie.« Sie küsste ihn und zeigte
erneut ihre Beine. »Bring mich nicht zum
Lachen.«
Nachdem die Tür
zugefallen war, ließ sich Kraus in einen Sessel fallen. Vor
dem Fenster heulte der Wind, und die Glocken der
Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche schlugen. Er nahm den
Telefonhörer ab, ließ sich zur Auslandsvermittlung
durchstellen und mit Paris verbinden. Ava meldete sich. Ihre Stimme
umhüllte ihn wie ein warmer Schal. »Willi, geht es dir
gut?«
»Mir
geht’s gut, alles in Ordnung. Die Ermittlungen kommen voran.
Wenn alles klappt, dann können wir sie in … ich
weiß nicht, in ein paar Tagen hoffentlich, abschließen.
Wie geht es den Jungs?«
»Sie sind
begeistert. Mutter und Vater haben sie mitgenommen, um sich das
Feuerwerk auf den Champs-Élysées anzusehen. Sie sind
ganz aufgeregt, weil sie bis Mitternacht aufbleiben dürfen.
Bist du ganz allein?«
Kraus’ Kehle
wurde trocken. Wenn er doch bei ihnen in Paris sein
könnte!
»Ja. Aber das
ist auch ganz gut so. Ich kann ein bisschen Zeit gebrauchen, um zur
Ruhe zu kommen. Hör zu, Ava, bestell ihnen alles Liebe. Und
auch deinen Eltern. Und dir wünsche ich … das
Allerbeste zum neuen Jahr.«
Um Mitternacht
schlugen die Glocken. Auf den Straßen explodierten
Feuerwerkskörper, Trompeten wurden geschmettert. Ein
Betrunkener schrie unaufhörlich aus dem Fenster: »Frohes
1933! Frohes 1933!« Kraus war nicht religiös, aber er
verspürte den Drang zu beten … Herr, bitte mach dieses
Jahr besser als das letzte.
Gegen halb zwei
hörte er trunkenes Gelächter im Flur. Paulas Stimme war
unverkennbar. »Also, was ist passiert?« Er ließ
sie herein. »Hat er dich hypnotisiert?«
»Und wie er das
hat!« Fritz’ Schmiss leuchtete flammend rot.
»Wusstest du, dass unsere brillante kleine Paula hier
außer Polnisch auch noch Chinesisch spricht? Ling ni how chu!
Ling tang! Ling tang! «, imitierte er sie fast
hysterisch.
»Hör
auf!« Sie versetzte ihm einen Klaps und keuchte vor Lachen.
»Das habe ich nicht gesagt!«
»Erzählt
mir, was passiert ist.« Kraus führte sie zur
Couch.
»Gustave ist
fast gestorben, als er ihre Beine gesehen hat.«
Paula hob den Saum des
pinkfarbenen Abendkleides an. »Er nannte sie
›ideal‹.« Sie tat, als würde sie
erröten, und ahmte dann seine Stimme nach, indem sie tiefer
redete. »Sie wünschen sich vielleicht solche Beine,
meine Damen, aber nur eine von tausend besitzt
sie.«
»›Das
ideale Bein deutet‹«, nahm Fritz den Ball auf,
»›wie alles Wundervolle und Perfekte, auf eine starke,
vitale Lebenskraft hin.‹«
Und dann schrien sie
beide gleichzeitig: »›Auf
Leidenschaft!‹«
»Hat er dir
einen posthypnotischen Befehl gegeben?«
»Woher soll ich
das wissen? Ich kann mich an nichts mehr erinnern, nachdem er
angefangen hat, beim Anblick meiner Beine zu
sabbern.«
»Und, hat er,
Fritz?«
»Ich saß
so weit vorne wie möglich. Aber Gustave hat sich so dicht zu
den Frauen heruntergebeugt, er hat praktisch auf ihnen gelegen
… dass ich es nicht mitbekommen habe.«
Kraus holte tief Luft.
»Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als zu
warten.«
»Gut.«
Paula klatschte in die Hände. »Mehr zu
trinken!«
»Nein. Ab jetzt
gibt es nur noch Kaffee.«
Kraus schenkte ihnen
gerade eine zweite Tasse ein, als die Glocken der
Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche Mitternacht
schlugen.
Paulas Lider
flatterten einen Moment. »Mein Gott!« Sie schlug sich
an die Stirn. »Das habe ich vollkommen vergessen.
Zigaretten.«
Fritz sah Kraus an.
»Zigaretten? Ich habe genug davon hier.«
»Nein, die
rauche ich nicht.« Sie sah sich nach ihrem Umhang um.
»Ich laufe schnell runter zur Ecke. Der Kiosk dort hat sicher
meine Marke.«
In ihrem schwarzen
Cape und dem pinkfarbenen Abendkleid ging sie über die
Nürnberger Straße. Kraus und Fritz hielten sich mehrere
Meter hinter ihr. Die Bürgersteige waren belebter als um zwei
Uhr nachmittags. Ganze Partys waren unterwegs, sangen, lachten und
entzündeten Feuerwerk. Die Kneipen und Restaurants waren voll.
Aber Paula bewegte sich, als wäre sie in einem Traum. Sie ging
zuerst langsam und zielstrebig, dann beschleunigte sie
allmählich ihre Schritte, als hätte sie das Gefühl,
sich zu verspäten.
Auf der Tauentzien
erkannte
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