Schlafwandler
sie eines der Stiefelmädchen. »Paula! Um
Himmels willen! Was hast du denn gemacht, Mädchen?« Aber
Paula ignorierte sie und ging wie blind und taubstumm an ihr
vorbei. »Du hast vielleicht Nerven.« Das Mädchen
sah ihr finster nach. »Hast dir wohl einen vornehmen Kerl
geangelt, was, du Hure!«
Paula ging an der
Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche vorbei, am Gloria Filmpalast
und am Romanischen
Café , wie ein Geist glitt sie durch
das Feiertagschaos. Einmal drehte sie langsam den Kopf und blickte
über die Schulter zurück. Sie schien Fritz und Kraus zu
sehen, kümmerte sich jedoch nicht darum. Am Bahnhof Zoo hob
sie ihr Kleid an und ging die Treppe hinauf. Auf dem Bahnsteig
Richtung Westen wartete sie, während die Züge an ihr
vorbeiratterten, zog ihr Cape fester um sich und schwankte vor und
zurück, als wäre sie eingeschlafen. Als jedoch die S-Bahn
nach Spandau einfuhr, stieg sie hastig ein.
Der Waggon war voll.
Jugendliche tranken und warfen den anderen Passagieren kleine
Feuerwerkskörper vor die Füße. Bei den schnellen,
stakkatoartigen Explosionen kreischten einige Frauen, als
würden sie von Maschinengewehren beschossen. Eine fiel
tatsächlich in Ohnmacht. Paula stand wie ein Zombie in einer
Ecke, als wäre sie eigentlich gar nicht da.
An der Endstation der
Linie war noch etwa ein Dutzend Menschen im Zug. Fritz und Kraus
ließen Paula zuerst aussteigen, für den Fall, dass man
ihr gefolgt war. Sie blieben auf dem Bahnhof stehen und
beobachteten, wie sie in ihrem pinkfarbenen Kleid die lange Treppe
hinabschwebte. Sie schien genau zu wissen, was sie tat. Auf der
Straße ging sie langsam bis zur Ecke, sah sich in beide
Richtungen um und überquerte dann die Fahrbahn.
Dann trat sie direkt
unter die Nazifahne und verschwand im Schwarzen
Hirsch .
SIEBZEHN
Eine Stunde
später stieß Fritz ihm den Ellbogen in die Seite.
»Das erinnert mich an Soissons, Willi! Frühling 1918.
Weißt du noch? Hinter den französischen
Linien.«
Kraus war absolut
nicht in der Stimmung für solche Reminiszenzen. Aber wenn er
jetzt darüber nachdachte … Es stimmte. Sozusagen. Das
Mondlicht auf dem Fluss. Die schwüle, dunkle Nacht. Eine
Million Sterne.
Angst schnürte
ihm die Eingeweide zusammen.
Jeden Moment konnte
Paula mit ihren Häschern aus dieser Tür kommen, und dann
ging die Jagd los. Sie hatten den Schwarzen Hirsch umstellt. Die
Lastwagen mit den Funkgeräten parkten ein paar Straßen
weiter auf den einzigen Seitenstraßen, die aus Spandau
herausführten. Sie waren mit Reichswehroffizieren bemannt, die
von Schleicher handverlesen hatte. Mehr Männer von Schleichers
warteten in der S-Bahn-Station, hatten sich mit Ferngläsern
hinter dem Turm der Zitadelle verschanzt und lauerten in der Gasse
hinter dem Gasthof. Drinnen wartete Gunther darauf, ihn sofort zu
benachrichtigen, wenn Paula das Wirtshaus verließ. Kraus und
Fritz selbst befanden sich stromabwärts an der Havelmole
für die Vergnügungsdampfer, wo Fritz’ neuer
Kabinenkreuzer, die Valentina, aufgetankt ankerte.
Das dritte mobile Funkgerät war darauf montiert.
Weil Kraus keine
Ahnung hatte, wohin die Verfolgung sie führen würde,
hatte er keine andere Wahl gehabt, als sich in dieser Phase ihrer
Operation auf Überwachung zu beschränken. Ganz
offensichtlich war dieses Sachsenhausen auffallend abgelegen. Aber
war es auch bewaffnet? Und wenn ja, wie stark war der Gegner? Wie
viele Menschen wurden dort gefangengehalten? Er musste es wissen,
bevor er einen Angriff startete. Also hatte er einen Plan aus einem
der alten Kriegsbücher ausgegraben. Fritz und er würden
sich wie früher als Kundschafter betätigen und Paula mit
dem Wagen oder dem Boot dorthin folgen, wo diese Mistkerle sie
hinbrachten, ganz gleich wohin. Dann würden sie die
feindlichen Stellungen auskundschaften. Sobald sie wussten, womit
sie es zu tun hatten, würden sie ihre Verstärkung
herbeirufen.
Das Warten war der
schlimmste Teil der Operation. Das hatten sie an der Westfront auf
die harte Tour gelernt. Kraus hielt seinen Feldstecher auf die
Tür des Schwarzen Hirschs gerichtet, direkt
unterhalb der Nazifahne, und machte keine Anstalten, Fritz’
Geplapper zu unterbinden. Er wusste, dass es die Spannung
linderte.
»Weißt du
noch, als wir sahen, wie Ludendorff die Beherrschung
verlor?«
Das war nicht gerade
seine liebste Erinnerung.
Im November 1918
hatten sie mit angesehen, wie Erich Ludendorff, der Oberste
Befehlshaber des Kaiserlichen Generalstabs, in seiner offenen
Limousine
Weitere Kostenlose Bücher