Schlafwandler
saß, die wie der Rest der zurückweichenden
Armee im Verkehr feststeckte, und einen Nervenzusammenbruch bekam.
Er brüllte, weinte, schlug auf den Wagen ein und gab dem
Kaiser, dem Reichstag, von Hindenburg, allen anderen die Schuld an
dem verlorenen Krieg, nur nicht sich
selbst.
»Ich
schwöre dir, Willi, halb Berlin ist genauso verrückt
geworden.« Die Angst in Fritz’ Stimme war nicht zu
überhören. »Ich habe noch nie so etwas erlebt. Es
herrscht die reinste Hysterie. Sie tun, als gäbe es kein
Morgen. Die ganze Stadt steht unmittelbar vor einer
Explosion.«
Durch den Feldstecher
sah Kraus, wie die Hakenkreuzfahne im Wind wehte.
»Von Papen
geifert förmlich nach einer Revanche gegen von Schleicher,
weil der ihn im letzten November rausgeworfen hat. Er ist
entschlossen, eine neue Allianz zu schließen, mit Hitler. Ich
habe ihn neulich interviewt. Er hat vollkommen den Verstand
verloren. Er glaubt wirklich, dass die Nazis schwach genug sind,
dass er Hitler zähmen könnte, wenn Hindenburg die
Präsidentenpeitsche knallen lässt und er mit dem Stuhl
des Vizekanzlers droht. Er hat mir gegenüber selbst die
idiotischsten Gerüchte wiedergekäut, die im Moment in
Berlin kursieren. Die Kommunisten wären bereit, sich den
Sowjettruppen anzuschließen. Der Kaiser plane eine
Rückkehr, mit Hilfe des britischen Königshauses. Und was
unseren guten Freund von Schleicher angeht … Von wegen,
Strasser hätte ein Drittel der Partei mitgenommen! Der Mann
ist außer Landes geflohen, und zwar allein! Die Sozialisten
sind kurz davor, aus seiner Koalition auszubrechen, und die
Landjunker unterstützen von Papen. Nein, ich fürchte,
unsere Zukunft liegt jetzt entweder bei den Kommunisten oder
…«
Das Telefon in der
gelben Zelle klingelte. Kraus nahm ab.
»Seitentür«,
flüsterte Gunther. »Durch den
Biergarten.«
Endlich. In einer
Stunde würde die Sonne aufgehen. Dann war eine heimliche
Verfolgung unmöglich, erst recht mit einem Boot. Aber jetzt
konnte Kraus durch den Feldstecher in der Dämmerung Paulas
pinkfarbenes Kleid erkennen. Sie wurde von zwei Männern in
Mänteln durch den Biergarten auf einen Steg geführt und
auf ein Boot mit Innenbordmotor gebracht.
Dessen Motor
brüllte plötzlich auf. Kraus gab Fritz den
Feldstecher.
»Das ist ein
V-10.« Fritz lauschte, anstatt durch den Feldstecher zu
sehen. »Hat vielleicht einhundertachtzig Pferdestärken.
Um den kann ich Charleston tanzen.«
»Tango
würde schon genügen«, meinte Kraus. »Also
los, vorwärts!«
Sie gingen schnell an
Bord der Valentina, ein
zweihundertfünfzigtausend Reichsmark teures
»Kunstwerk«, laut Fritz. Sie war speziell nach seinen
Wünschen angefertigt worden, mit verchromten Metallteilen,
einem Mahagonideck und feinsten Ledersitzen. Und nicht zu
vergessen, dachte er, während er hastig ihre Leinen
löste, zweihundertfünfzig Pferdestärken. An Bord
duckten sie sich in den Schatten und warteten, bis sich ihre Beute
näherte und dann an ihnen vorbei in die breite, dunkle Havel
hinausdröhnte. Einen Moment, bevor sie verschwand,
drückte Fritz die Zündung.
Der Wind peitschte
durch Kraus’ Haar. Eisige Gischt sprenkelte sein Gesicht. Als
er sich umdrehte, um das Funkgerät anzuschalten, musste er
sich am Sitz festhalten, um nicht über Bord zu gehen. Nur mit
größter Entschlossenheit gelang es ihm
schließlich, einen der Funklaster zu erreichen. »Nord,
nordwest, über die Havel!« Er musste brüllen, um
sich verständlich zu machen.
»Verstanden,
Herr Inspektor.«
Er wünschte sich,
er hätte Handschuhe mitgenommen und einen Hut. Schon als Kind
hatte er Boot fahren gehasst. Je schneller die Boote fuhren und je
härter sie schlingerten, desto übler fühlte sich
sein Magen an. Es gab einen guten Grund, warum er nicht zur Marine
gegangen war.
»Bist du sicher,
dass sie uns nicht sehen können?«, rief er.
»Kann ich nicht
garantieren!«, schrie Fritz ihm vom Ruder aus zu. »Ich
halte mich so weit zurück, wie ich …«
Kraus klammerte sich
an die Reling und übergab sich.
Fritz lachte so
schallend, dass er beinahe die Kontrolle über das Boot
verlor.
In einer halben Stunde
umrundeten sie die Halbinsel Tegel und fuhren nach Norden in
Richtung Oranienburg, wo der Fluss sich auf die halbe Breite
verengte. Sie waren an dem Bootshaus und der Ferienhaussiedlung
vorbeigefahren. Wo lag dieses Sachsenhausen?
Kraus hatte gerade
ihre letzte Position durchgegeben, als er Fritz rufen hörte:
»Himmel, sie haben uns
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