Schlafwandler
vergoldeten Portale des würdevollen alten
Palasthotels einen letzten Rest der Stabilität des einstigen,
kaiserlichen Berlins zu bieten. Damals, das wusste Kraus, begriffen
die Menschen ihr Leben und die Welt um sie herum durch den eisernen
Sinn der Pflichterfüllung für ihren Kaiser und ihren
Staat. Als das unterging, stürzte alles wie verrückt nach
vorn, suchte verzweifelt nach einer neuen
Achse.
»Etwa vor einem
Jahr hat ein Typ namens Heydrich eine sehr unerfreuliche Tatsache
über seine Vergangenheit herausgefunden.«
Kraus hörte, wie
ein Wagen hinter ihm wie verrückt hupte und dass Glocken
klingelten.
»Und das
wäre, Kurt?«
Ein Feuerwehrwagen
versuchte, sich den Weg durch das Chaos zu bahnen.
Was konnte Heydrich
über den Mann in Erfahrung gebracht haben, das ihm derartige
Angst einflößte?
Kraus schaffte es,
sich mit dem BMW neben eines der alten Torhäuser von Schinkel
zu quetschen, dessen neoklassizistische Säulen mit Zeitungen
von einem Kiosk behängt waren.
COMMERZBANK
BANKROTT! HITLER TRIFFT INDUSTRIELLE IN KÖLN!
Ein Clown auf Stelzen
spielte an der Ecke, umringt von kreischenden Kindern. Ein Mann
ohne Beine rollte auf einem Holzwägelchen vorbei und klapperte
mit einer Blechdose. Zwei junge Frauen in Silberfuchspelzen lachten
hysterisch, während sie untergehakt versuchten, die
Straße zu überqueren. Eine blendende Reklame über
ihren Köpfen verkündete: »Lux – Und Ihre
Kleidung sieht aus wie neu!«
»Gustave
Spanknobel kommt nicht aus Wien. Und er heißt auch nicht
Gustave Spanknobel.«
Das Leben auf dem
Potsdamer Platz – dem Zentrum einer Nation, die
allmählich außer Kontrolle geriet – ähnelte
immer mehr einer wilden Fahrt auf einem Karussell. Den
Fahrgästen gelang es nur noch mit Mühe, sich
festzuklammern.
»Sein richtiger
Name ist Gershon Lapinsky. Er kommt aus einem kleinen Dorf in
Böhmen und entstammt einem alten Geschlecht von – wie
sie es nennen – Rebben. Mystikern. Heilern. Sein Vater hat
magische Amulette verkauft, auf denen Symbole der Kabbala
eingraviert waren. Er ist Jude, Willi. Ein Jude. Und Hitlers
Wahrsager!«
Kraus betrachtete das
beeindruckende neue Bürohochhaus an der Ecke
Königgrätzer Straße. Acht Stockwerke reine
Glasfront, die sich zu dem Verkehr darunter bogen. Es war das
bisher spektakulärste Werk von Erich Mendelsohn, das
Columbushaus. Mendelsohn, ein Jude, formte das Herz von Berlin neu.
Er erfüllte es mit optimistischem Futurismus. Kein Wunder,
dass die Nazis es hassten. Sie nannten es »bolschewistische
Dekadenz«. Goebbels hatte erklärt, dass sie es noch am
Tag der Machtergreifung zu einem Zentrum für Umerziehung
umwandeln würden, um Männer wie Mendelsohn zu lehren, was
es bedeutete, ein Deutscher zu sein.
»Das ist
vollkommen verrückt, Kurt. Ich verstehe das nicht. Wie kann
ein jüdischer Junge zu Hitlers Hellseher
werden?«
Kraus’ Cousin
riss sich die Brille von der Nase und fing an, sie wie wild zu
putzen. »Viele Jungs haben solche Phantasien, wenn sie
zwölf sind, aber dieser hier ist wirklich weggelaufen und hat
sich einem Zirkus angeschlossen. Seitdem hat er sich überall
als Christ ausgegeben, erfolgreich. Er hat alle Tricks verwendet,
um sich zu einem berühmten ›Mystiker‹ zu machen:
Wortkodes, komplizierte Handzeichen. Er hat es mir alles unter
Tränen gebeichtet. Jahre später, als er schon ein
großer Star war, wurde er Hitlers Freund Heß
vorgestellt. Nazis sind vom Okkulten ziemlich besessen. Nachdem
Heß ihm verfallen war, sind sie alle gekommen. Hitler hat ihn
als großen Seher gefeiert. Ein deutscher Visionär.
Kannst du dir das vorstellen? Und der kleine Gershon war so
leichtgläubig, dass er glaubte, er könnte damit
durchkommen. Bis eines Tages dieser Heydrich von irgendeinem
Nazi-Geheimdienst aufgetaucht ist, SS oder so etwas, und sagte, er
hätte den ganzen Dreck ausgegraben. Wenn Gershon nicht
kooperierte … das heißt, einen ständigen Fluss
von schönen, alleinstehenden Frauen lieferte, die alle
Ausländerinnen sein mussten, wäre er sehr bald ein sehr
trauriger Lapinsky.«
Hinter dem riesigen
Haus Vaterland, das im Besitz von Juden war, und der gigantischen,
drei Häuserblocks langen Zentrale des Kaufhauses Wertheim, das
ebenfalls Juden gehörte, wurde der Verkehr ein wenig
dünner.
Die Nazis
verkündeten, dass diese Einrichtungen eines Tages den
»Deutschen« gehören würden.
»Wenn es dich
tröstet«, Kurt warf einen ängstlichen Blick auf die
Uhr, »der Große Gustave hat
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