Schlafwandler
Aufzug und sah, dass seine Hand zitterte. Er hatte das
Gefühl, als wäre er innerlich zerbrochen, als hätte
ihm jemand einen Knüppel übergezogen. Was hatte er mit
all seinen Bemühungen erreicht? Gustave – oder sollte er
lieber sagen Gershon? – saß unten in einer Zelle. Und?
Der Mann konnte ihm nichts sagen. Er wusste sicher, dass der Schwarze
Hirsch ein
Übergabepunkt war, aber er hätte alle dort verhaften
können, ohne dadurch Sachsenhausen zu finden.
Wo blieb der
gottverdammte Aufzug?
Als würde er von
seinem Ärger angezogen, kam der klapprige Gitterkäfig
herunter. Kraus trat ein und sagte sich, dass er eigentlich Paulas
Mutter aufsuchen müsste. Aber als er sich die ältere Frau
vorstellte, wie sie auf den Knien lag und den Boden schrubbte,
überkam ihn eine kalte Furcht. Kugeln konnte er sich stellen,
auch Stacheldraht und Schlachtfeldern. Aber dem Zorn einer Mutter?
Er schloss die Aufzugtür und drückte den Knopf für
den sechsten Stock.
Sie hätte alles
Recht der Welt gehabt, ihn zu erwürgen. Er hätte Paula
niemals gehen lassen dürfen. Während der Aufzug nach oben
ruckelte, schoss ihm das schreckliche Bild durch den Kopf, wie sie
auf einer Trage gefesselt in einen Operationssaal gerollt
wurde.
Erst einmal in seinem
Leben, als Vicki starb, hatte er sich so unzulänglich
gefühlt.
Auf der sechsten Etage
schlug ihm beißender Zigarrengeruch entgegen. Das erinnerte
ihn wieder an die Beschwerden aus Oranienburg. Dieser Gestank,
sagte er sich. Der Tabakgeruch wurde stärker, als er sich
seinem Büro näherte, und reizte seine Kehle, als er die
Tür öffnete. Ruta warf ihm einen scharfen Blick zu. Er
sah, dass der Tabakrauch aus seinem eigenen Büro quoll, als
würde es in Flammen
stehen.
»Der
Kommissar«, stammelte sie, »möchte mit Ihnen
reden.«
Horthstaler saß
in Kraus’ Stuhl, die Füße auf dem Schreibtisch und
eine riesige Zigarre zwischen seinen fleischigen Lippen. Dagegen
war nichts zu sagen. Aber warum grinste der bleiche
Kriminalassistent Thurmann mit seinem schwarzen,
bleistiftdünnen Schnurrbart, der auf seiner Couch saß,
so selbstzufrieden?
»Endlich.«
Der Kommissar warf Kraus einen trüben Blick zu. »Sie
finden also doch noch Zeit, ins Büro zu kommen, während
Sie Ihre Verwandten durch Berlin kutschieren.« Er setzte sich
grunzend auf, und das Blut floss aus seinen dicken Wangen.
»Wie überaus gewissenhaft.«
Warum hatte Kraus das
Gefühl, dass man ihm gerade die Augen verbunden und ihn an
eine Wand gestellt hatte?
»Ich bin nicht
aus besonders erfreulichen Gründen hier.« Horthstaler
nahm die Zigarre aus dem Mund und tat, als würde er sie
studieren. »Also erlauben Sie mir ein offenes Wort. Ihre
Ermittlungen wegen des Verschwindens der bulgarischen Prinzessin
haben sich als ein bedauerlicher Fehlschlag erwiesen.
Reichspräsident Hindenburg ist sehr enttäuscht von Ihnen,
Kraus.«
Kraus drohte der Magen
in die Kniekehlen zu fallen, und gleichzeitig musste er gegen den
Drang ankämpfen, laut zu lachen.
Reichspräsident
Hindenburg konnte sich kaum an seinen eigenen Namen erinnern,
geschweige denn an den eines Kriminalinspektors. Kraus fiel der
Artikel im Stürmer ein. Und er dachte
daran, dass Horthstaler jetzt das Parteibuch der Nazis mit sich
herumtrug. Offenbar nahmen sie Anlauf, um ihn mit einem schnellen
Tritt in den Hintern nach draußen zu befördern. Ihren
berühmten Juden-Inspektor.
»Sie können
mir dankbar sein, dass ich mich der extremsten Reaktion Sie
betreffend widersetzt habe.« Der Blick des Kommissars wurde
liebenswürdig, so wie man ein Haustier ansehen würde.
»Schließlich arbeiten Sie schon ziemlich lange bei uns,
Kraus. Und Sie haben einige spektakuläre Erfolge
erzielt.«
Ja. Komisch. Noch vor
ein paar Monaten hatte Horthstaler jede Gelegenheit genutzt, seine
enge Zusammenarbeit mit dem Kinderschänder-Fänger
vorzuzeigen. Mit dem großen Star der Berliner
Kriminalpolizei.
»Ihre
jüngsten Misserfolge jedoch«, sein Blick wurde wieder
gleichgültig, »lassen mir keine Wahl, als Sie auf eine
Probezeit zu setzen. Was Ihnen genau zehn Tage Zeit lässt,
diese bulgarische Prinzessin zu finden, und zwar lebendig und
wohlbehalten. Bis dahin«, er presste die fleischigen Lippen
zusammen, »befördere ich Thurmann zu Ihrem
Stellvertreter. Sollten diese zehn Tage verstreichen«, er
streifte die Asche auf den Büroboden ab, »ohne dass Sie
Erfolg hatten«, er beugte sich vor, schob die Zigarre in den
Mund und paffte, bis sie glühte,
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