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Schlafwandler

Schlafwandler

Titel: Schlafwandler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
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auch das blutige Ende
Hitlers vorhergesehen. Natürlich hat er es ihm nicht gesagt.
Aber er hat mir gestanden, dass das Horoskop des Führers
Jupiter in extremer Opposition zum Saturn zeigt, was eine
schreckliche, endgültige Niederlage
ankündigt.«    
    Kraus sah ihn
an.
    Kurt lächelte
nervös. »Käthe bringt mich um, wenn ich diesen Zug
verpasse.«
    Kraus erreichte zehn
Minuten vor der Abfahrt des Zuges den Bahnhof Zoo.
    Sie umarmten sich auf
dem Bürgersteig.
    »Ich danke dir
sehr für deine Hilfe, Kurt.«
    »Aber bitte. Du
kannst sicher sein, dass ich darüber mindestens ein Dutzend
Artikel veröffentlichen werde. Es tut mir nur leid, dass du
Sachsenhausen noch nicht finden konntest.«
    »Mir auch. Aber
… Vielleicht habe ich die Witterung
aufgenommen.«
    »Ich schreibe
dir und erzähle dir alles über Tel Aviv.« Kurt
setzte seine Brille ab, rieb sich die geröteten Augen, sah
sich ein letztes Mal um und nahm einen letzten, tiefen Zug der
Berliner Luft.
    »Gott, ich werde
diese Stadt vermissen.«
    »Hol dir eine
schöne Sonnenbräune, für mich.« Kraus brannte
die Kehle. »Und … entschuldige mich bei
Käthe.«
    »Ach, sie wird
nicht mehr daran denken, sobald wir hier weg sind.« Kurt rieb
sich mit einem Taschentuch über das Gesicht. »Pass auf
dich auf, Cousin. Und nächstes Jahr«, er hob drohend
einen Finger, als er wegging, »sehen wir uns in
Jerusalem!«
    Kraus stieg wieder in
seinen BMW, wendete auf der Hardenbergstraße und fühlte
sich so leer, wie Kurts Wohnung gewesen war. Direkt vor ihm erhob
sich die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, deren dunkle
Glockentürme im Dunst verschwanden. Während er darauf
wartete, dass die Ampel umsprang, sah er eine rothaarige Frau, die
sich in einer Schaufensterscheibe betrachtete. Die Kirche
reflektierte sich auch in dem Fenster, und es schien, als
wären ihr doppelt so viele Türme gewachsen.
    Gustave war also Jude.
Und konnte nicht ertragen, was er getan hatte. Er hatte geglaubt,
den Teufel besiegen zu können. Aber der König der
Mystiker ist genau so ein Schlafwandler wie wir alle, dachte
Kraus.
    Die Luft schien zu
vibrieren.
    Eine Trommel wurde
geschlagen.
    Kraus schnürte
sich der Hals zu. In seinen Ohren hämmerte das Knallen von
Ledersohlen auf Asphalt. Kaum drei Meter von ihm entfernt bogen
zwei geschlossene Abteilungen der Sturmtruppen um die Ecke. Reihe
um Reihe brauner Uniformen, Lederkoller über der Brust und
blutrote Armbinden. Die Leute beeilten sich, ihnen aus dem Weg zu
gehen, aber ein dünner, gebückter Mann war nicht schnell
genug und wurde zur Seite gestoßen. Sein Hut flog in die
Gosse. Als er sich bückte, um ihn aufzuheben, trat ihm ein
Soldat der Sturmtruppen in den Hintern, und er stürzte neben
den Hut. »Deutschland,
erwache!«, brüllte die ganze
Abteilung.
    Kraus wollte dem armen
Kerl helfen, aber als er die Wagentür öffnete, sah er
plötzlich etwa dreißig Männer auf Fahrrädern
über die Hardenbergstraße rasen. Sie trugen alle
Arbeitermützen und hatten die Fäuste zum kommunistischen
Gruß in die Luft gereckt. Die Rote Brigade! Wie ein Schwarm
Bienen fielen sie über die Nazis her und deckten sie mit einem
mörderischen Hagel von Ziegelsteinen und Flaschen ein. Kraus
beobachtete, wie etliche Braunhemden zu Boden fielen, während
ihr Blut in den Rinnstein sickerte. Fußgänger
kreischten, als sie in Geschäften und hinter geparkten
Fahrzeugen Schutz suchten.
    Es ähnelte fast
einer Szene aus einem expressionistischen Film. Fahrräder
flogen durch die Luft, Fensterscheiben zerbarsten.
Schaufensterpuppen standen nur in Büstenhaltern und
Strapsgürteln im Freien. Schlagringe krachten, Prügel
zischten durch die Luft. Pfeifen ertönten. Die Polizei. Eine
Wasserkanone feuerte erste Salven ab. Nazis und Kommunisten wurden
von den Füßen gerissen. Die Leute flohen, hielten sich
die Köpfe, und überall spritzte rotes Blut.
    Da öffnete sich
plötzlich eine Lücke im Verkehr.
    Kraus gab Vollgas und
bog in die Kantstraße ein, als das Überfallkommando
eintraf. Er hörte noch mehrere Häuserblocks weit das
Heulen der Sirenen und das Splittern von Glas, bis zum
Ku’damm, wo gutgekleidete Menschenmassen weiterhin
versuchten, das Leben zu genießen.

ZWEIUNDZWANZIG
    Die große rote
Uhr am Polizeipräsidium zeigte Viertel vor drei, als er
eintrat. Durch sein Hirn hallte immer noch das Stampfen der
Stiefel, das Klirren von Glas. Dieser schmerzliche, letzte Blick,
den sein Cousin auf Berlin geworfen hatte. Er drückte den
Knopf am

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