Schlafwandler
»tritt Thurmann an Ihre
Stelle. Als Vorbereitung darauf werden Sie ihm ab sofort Zugang zu
sämtlichen Akten in Ihrem Büro verschaffen.«
Horthstaler seufzte und lächelte seinen
vertrauenswürdigen, alten Bluthund an. »Ich rate Ihnen,
den Ernst der Lage zu begreifen.«
Wieder verspürte
Kraus den Drang zu lachen.
»Sollte Ihr
Arbeitsverhältnis beendet werden«, der Boss wuchtete
sich aus Kraus’ Stuhl, »dann verlieren Sie nicht nur
jede Möglichkeit auf eine Beschäftigung im Staatsdienst
in diesem Land.« Er nahm die Zigarre und drückte sie auf
dem Glas von Kraus’ Diplom von der Polizeiakademie aus.
»Sondern auch die Pensionsansprüche, die Sie in all den
Jahren angesammelt haben. Wenn ich Sie wäre«, er klopfte
Kraus auf die Schulter, »dann würde ich diese Prinzessin
schleunigst finden.«
Es schien nur eine
Sache zu geben, die Kraus eine gewisse Erleichterung verschaffte.
Sie schienen nichts von Gustave zu wissen. Doch als der Kommissar
verschwand, stürzte sich der Kriminalassistent auf ihn.
»Inspektor, ich möchte unbedingt die Akten über die
bulgarische Prinzessin sowie die über den Meerjungfrauen-Fall
einsehen. Und zwar unverzüglich.«
Darum ging es also!
Dieser kleine, wachsgesichtige Thurmann mit seinem geschniegelten,
schwarzen Schnurrbart würde seine Kohorten informieren –
und der Fall war abgeschlossen.
»Hier sind sie,
Herr Kriminalassistent.« Ruta reichte ihm beflissen einen
großen Stapel mit Akten.
Kraus hatte das
Gefühl, als hätte ihm jemand ein Messer in die Eingeweide
gerammt.
»Ich habe
bereits alles für Sie
vorbereitet.«
Das Messer wurde
langsam umgedreht.
»Wie
überaus effizient, Frau Garber.« Thurmann lächelte
stolz.
Sie warf Kraus einen
verstohlenen Blick zu. Es dauerte eine Sekunde. Aber dann kapierte
er. Sie hatte die wichtigsten Akten herausgenommen und Thurmann nur
Müll gegeben. Gesegnet sei diese Frau!
Als Thurmann
verschwand, hätte Kraus sie am liebsten
geküsst.
Sie bot ihm keine
Gelegenheit. »Es sind einige Nachrichten hereingekommen,
während Sie unterwegs waren, Herr Kriminalinspektor.«
Sie reichte ihm zwei kleine Zettel, ganz sachlich. Aber das
Strahlen in ihren Augen sagte ihm, dass sie alles für ihn tun
würde.
»Danke.«
Er nickte. »Ich danke Ihnen.«
Die erste Nachricht
kam von Fritz. Er war aus dem Krankenhaus entlassen worden und
wollte, dass Kraus sich so schnell wie möglich bei ihm
meldete. Die zweite war eine Telefonnummer.
»Es war eine
sehr wichtig klingende Dame.« Ruta zuckte mit den Schultern.
»Sie wollte ihren Namen nicht nennen.«
»Ich scheine sie
mir einfach nicht vom Leib halten zu können.« Er
lächelte.
»Sie sind ein
höchst bewundernswerter Mann, Herr Inspektor. Höchst
bewundernswert.«
Ein Schauder
durchrieselte ihn, als er die Nummer wählte und ein Butler ihm
mitteilte, dass er mit der Residenz Meckel verbunden sei. Seine
Verblüffung potenzierte sich noch, als die Witwe des
verschiedenen SA-Generals ans Telefon kam.
»Herr
Inspektor«, sagte sie ohne auch nur die geringste
Subtilität. »Ich warte schon seit Tagen darauf, von
Ihnen zu hören. Sind Sie wirklich so inkompetent, oder
interessiert es Sie nur einfach nicht, zu erfahren, wer meinen Mann
ermordet hat?«
Kraus überlegte.
Wäre er sich nicht schon vorher wie ein Narr vorgekommen
…
»Im Gegenteil,
Frau Meckel. Es ist von größter Wichtigkeit für
mich. Wenn es Ihnen recht ist, kann ich sofort zu Ihnen
hinausfahren.«
»Hierher? Sind
Sie verrückt geworden? Wir müssen uns an einem
öffentlichen Ort treffen. Und zwar im größten
Trubel!«
Auf einer winzigen
Insel in der Spree, der Wiege Berlins, wo aus einem
mittelalterlichen Marktflecken die Stadt erwachsen war, wuchs im
18. Jahrhundert ein sehr sorgfältig gepflegtes Wunder des
Zeitalters der Aufklärung auf. Die Museumsinsel wurde zu einem
der weltweit wichtigsten Tempel der Kunst ausgebaut und enthielt
eine unvergleichliche Ansammlung von Galerien … das Alte
Museum, die Nationalgalerie, das Neue Museum, das
Kaiser-Friedrich-Museum. Und 1930 kam das i-Tüpfelchen hinzu:
die Antiquitätensammlung des Pergamon-Museums. Hier, unter dem
hohen Ischtar-Tor, hatte Kraus das Treffen mit Frau Meckel
vorgeschlagen.
Schritte hallten
über den Marmorboden. In den riesigen Sälen wimmelte es
von Menschen, aber Kraus fühlte sich sehr behaglich. Und
allein. Ein Schauer der Ehrfurcht überkam ihn, und er empfand
fast etwas Heiliges, als er sich dem uralten Bauwerk näherte,
das einst
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