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Schlafwandler

Schlafwandler

Titel: Schlafwandler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
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Kraus den BMW anließ, kalkulierte
er die schnellste Strecke. Ganz gleich, wie er fuhr, es war
umständlich. Berlins Zentrum war nur durch zwei
Hauptverkehrsadern mit seinen westlichen Vierteln verbunden, und
beide führten durch haarsträubende Nadelöhre. Unter
den Linden war um diese Uhrzeit vollkommen unbefahrbar. Der Umweg
über die Friedrichstraße, das Brandenburger Tor und den
Tiergarten war selbst für einen geborenen Berliner zu
nervenaufreibend. Dort gab es ständig Paraden,
Demonstrationen, Nazis, Kommunisten. Er entschied sich stattdessen
für den Mühlendamm, überquerte ohne Probleme an der
Gertrauden-Brücke die Spree und … landete in dem
klebrigsten aller Netze, dem Potsdamer Platz.
    Als sie sich ihm
näherten, wurden sie von Fahrzeugen jeglicher Art
eingekeilt.
    »Gustave hat
nicht gelogen, was die Entführungen anging«,
erklärte Kurt, als sie zum Stehen kamen. »Er hatte keine
einzige Erinnerung, die an den Schwarzen Hirsch gekoppelt
war.«
    Kraus warf ihm einen
ungläubigen Blick zu.
    Der König der
Mystiker hatte sich schließlich ergeben, aber nicht, weil
seine Willenskraft nachgelassen hätte, wie Kurt berichtete,
sondern weil er überempfänglich für Hypnose war. Und
eine schreckliche Angst vor dem Gefängnis hatte.
    »Wie kann er
nicht gewusst haben, dass er all diese Menschen dorthin geschickt
hat? Das ist doch lächerlich!«
    »Weil er sich
häufig selbst hypnotisiert hat, Willi, und zwar weil er alles
vergessen wollte, was er im Bezug auf diese ganze Angelegenheit
getan hat.«
    Kraus rutschte
unbehaglich auf seinem Sitz hin und her.
    »Es ist wahr.
Ich musste all seine posthypnotischen Instruktionen entfernen,
damit die Erinnerungen wiederkamen.«
    »Und dann
…?«
    »Dann hat er
gestanden, dass er letztes Jahr vielleicht dreißig oder
vierzig Frauen nach Spandau geschickt hat; er kann sich an die
genaue Zahl nicht mehr erinnern.«
    »Großer
Gott!«
    »Und eine
Familie von ungarischen Zwergen, Artisten … auf besonderes
Ersuchen.«
    Zwerge? Warum
…? Kraus schloss die Augen. »Was ist mit
Sachsenhausen?«
    »Nie davon
gehört.«
    »Scheiße!«
    »Er wusste nur,
dass er im Schwarzen Hirsch anrufen musste, wenn
er ein Mädchen gefunden hatte, das ihnen gefiel. Was weiter
mit ihr geschah, wenn sie dort ankam, wusste er
nicht.«
    »Um Himmels
willen … was hat er sich denn vorgestellt?«
    »Er hat wirklich
geglaubt, jedenfalls hat er sich erlaubt, das zu glauben, dass sie
als … Sexsklavinnen missbraucht würden. Dass ihre
›Strafe‹, wie er es formulierte, nur so lange
dauerte, wie die Herren Spaß an ihnen fanden. Mehr wollte er
nicht wissen. Er hatte keine Ahnung, dass keine von ihnen jemals
zurückgekehrt ist. Oder dass eine von ihnen in der Havel
gefunden wurde. Er hatte keinen Schimmer von irgendwelchen
medizinischen Experimenten. Er besaß kein Wissen über
etwas, was über den Schwarzen Hirsch hinausging. Und auch
dort kannte er nur … Stimmen. Er hat nie einen Namen
erfahren.«
    Kraus wurde übel.
Auf dem Oberdeck eines Doppeldeckers sah er hinter einem Fenster
eine junge Frau mit grünen, sehnsüchtigen Augen. Einen
Moment lang hätte er geschworen, dass es Paula war. Nur war
Paula in Sachsenhausen. Und er konnte wieder von vorn
anfangen.
    Die Fahrzeuge machten
einen ohrenbetäubenden Lärm, als sie sich den Weg
über den Potsdamer Platz bahnten. Seit fünfzig Jahren
rühmte sich dieser Schlund von Boulevards der zweifelhaften
Auszeichnung, Europas verkehrsreichste Kreuzung zu sein.
Schwärme von Autos, Bussen und Taxen drückten sich um die
endlosen Reihen gelber Straßenbahnen, die mit alarmierender
Geschwindigkeit aneinander vorbeirasten. Und durch das ganze
Gewühl rannten selbstmörderische
Fußgänger.
    »Was hat Gustave
denn dazu gezwungen, es zu machen, Kurt?« Kraus hupte einen
Mann an, der entschlossen zu sein schien, sich überfahren zu
lassen. »Wenn er es so verachtenswert fand, dass er sich
selbst hypnotisieren musste, um sich an nichts zu
erinnern?«
    Menschenmassen
strömten aus der Haltestelle Potsdamer Platz. Auf der anderen
Straßenseite winkte das protzige Hotel Fürstenhof mit
Jugendstiltürmen. Elektrische Werbetafeln blinkten aus einem
Dutzend Richtungen. »Berlin raucht Juno!«
»Chlorodont – wird täglich von Millionen
benutzt!« Männer mit Reklametafeln marschierten
über die Bürgersteige. »Ausverkauf! Engelhardts
Männerschuhe!« »Köstlich! Grossmanns
Delikatessen!«
    »Mit einem Wort,
Willi? Erpressung!«
    Links von ihnen
schienen die

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