Schlafwandler
das Haupttor des kaiserlichen Babylon gewesen war. Die
Ruinen dieses prachtvollen Tores waren in den Ebenen Mesopotamiens
ausgegraben und hier von deutschen Archäologen Stein um Stein
wieder aufgebaut worden. Jetzt erhoben sich die mit Zinnen
bewehrten Bastionen fünfzehn Meter hoch, fast bis unter die
Decke des Museums. Die Steine waren mit tiefblauen Fliesen
verkleidet und mit komplexen Mustern und Halbreliefs verziert, die
selbst nach zweieinhalbtausend Jahren immer noch atemberaubend
schön waren. Kraus konnte sich beinahe vorstellen, wie die
Bewohner aus der Antike darunter hindurchmarschierten. Laut der
Inschrift am Fuß des Tores hatte Nebukadnezar II., der
Schöpfer der Hängenden Gärten, das Tor 562 vor
Christus eingeweiht. Falls Kraus nicht allzu sehr danebenlag, hatte
derselbe Nebukadnezar den Tempel von Jerusalem geschleift und die
Juden verschleppt.
Tja, dachte er mit
einem gewissen Stolz, und sieh nur, wer immer noch da
ist!
»Herr Inspektor
Kraus, nehme ich an?«
In ihrem grünen
Lodenmantel, dem gefiederten Hut und der schwarzen Handtasche, die
sie mit dem Unterarm an ihren Körper drückte, entsprach
Helga Meckel dem Archetypus der deutschen Frau.
Und dennoch strahlten
ihre Augen eine vollkommen unverhohlene Furcht aus.
»Das
rekonstruierte Tor zu einer untergegangenen Zivilisation.«
Ihre Stimme klang scharf vor Ironie. »Ein höchst
angemessenes Umfeld, das Sie da für unser kleines Treffen
ausgewählt haben.«
»Tatsächlich?«
Ihre Direktheit konnte ihn nach ihrem Telefonat nicht mehr
überraschen. »Inwiefern, Frau Meckel?«
Sie sah ihn an.
»Weil es genau das ist, Herr Inspektor, was diese Männer
eines Tages aus Deutschland machen werden. Ruinen, die ausgegraben
werden müssen. Falls noch jemand daran interessiert sein wird,
sich an uns zu erinnern.«
Sie suchte nach einem
Taschentuch und tupfte sich damit die Stirn ab. »Verzeihen
Sie mir. Ich bin in letzter Zeit nicht mehr ich selbst. Falls mein
Verhalten vorhin unangemessen gewesen ist, lag das nur daran, dass
es mir nicht leichtgefallen ist, Kontakt zu Ihnen
aufzunehmen.« Sie steckte das Taschentuch in ihre Handtasche
und ließ sie nachdrücklich zuschnappen. Dann
lächelte sie ihn gequält an. »Das alles ist nicht
einfach für mich.«
»Verstehe.«
»Nein …
das verstehen Sie nicht.« Ihre blassen Wangen flammten rot
auf. »Ich bin eine gute Nationalsozialistin. Jedenfalls
dachte ich das. Aber gegen einige Ungerechtigkeiten muss man sich
zur Wehr setzen.«
Sie schien
plötzlich kaum noch Luft zu bekommen.
»Frau
Meckel«, drängte er sie, »dann müssen Sie
reden.«
Ihre blassen Lippen
zitterten. »Mein Mann«, sie hob ihr kräftiges
Kinn, »war ein Genie, Herr Inspektor. Er war der Erste, der
über die Möglichkeiten der Transplantation und
Verpflanzung von menschlichen Knochen geforscht hat. Nach dem, was
im Krieg geschehen ist … bei den Millionen von Amputierten
… hatte er das Gefühl, etwas unternehmen zu
müssen. Er wollte etwas zurückgeben, nicht etwas
wegnehmen. Das waren diese Jungen, diese
Emporkömmlinge.« Sie senkte die Stimme und sah sich
verstohlen um. »Die mit dem
SS-Zeichen.«
»Verzeihen Sie,
Frau Meckel … Ihr Mann war doch Mitglied des Instituts
für Rassenhygiene, oder nicht?«
»Er war sogar
ein Gründungsmitglied! Aber seine Sorge galt der Abnahme der
Geburtenrate in Deutschland und dem drastischen Anstieg von
Geisteskrankheiten! Hermann hat niemals von so etwas wie der
Judenfrage gesprochen oder der ›Arisierung‹, wie es
diejenigen nannten, die die Macht übernommen haben. Ich
versichere Ihnen, Herr Inspektor«, sie riss fast schmerzlich
die Augen auf, »jeder anständige Deutsche verurteilt
diese blödsinnige Judenhetze. Es geht alles vorüber,
sagten wir uns. Und auch das wird vorübergehen. Hitler bellt,
aber er beißt nicht. Wir brauchen ihn, um die Kommunisten in
Schach zu halten. Aber sobald er die Macht ergriffen hat, werden
Vernunft und Logik siegen.«
Ihre Lippen zitterten,
erneut traten ihr die Tränen in die Augen. »Jetzt glaube
ich das jedoch nicht mehr.« Sie griff in ihre Tasche und nahm
das Taschentuch in die hohle Hand. »Ich glaube das
überhaupt nicht mehr.«
Sie blickte sich um,
weil sie sich schämte, dass jemand sie so sah.
Kraus hatte den
Wunsch, die arme Witwe in den Arm zu nehmen und ihre Trauer zu
lindern; eine Trauer, die er nur allzu gut kannte. Aber er blieb
stehen, die Hände auf dem Rücken
verschränkt.
Sie riss sich zusammen
und konnte
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