Schlafwandler
der
Kriminalpolizei.«
»Na und? Wollen
Sie mir eine andere Geschichte erzählen?« Sie schob die
Hand in die Tasche ihres Kittels, zog eine Visitenkarte heraus und
wedelte damit wütend vor seinem Gesicht herum. Es war seine
Karte, die er Paula gegeben hatte. Aber das konnte nicht sein; sie
hatte sie in dieser Nacht mitgenommen. Er hatte gesehen, wie sie
die Karte in ihre Handtasche gesteckt hatte.
»Wollen Sie mir
sagen, dass meine Tochter nicht ermordet worden
ist?«
Er bekam keine
Luft.
»Bei ihrem Beruf
und all den Verrückten, die heutzutage frei herumlaufen
… es war eigentlich keine große
Überraschung.« Sie tat, als spuckte sie aus. »Ich
wusste, dass irgendwann etwas passieren würde. Aber glauben
Sie nicht, dass es nicht trotzdem wehtut. Zu hören, dass man
ihr den Schädel gespalten hat.« Sie richtete den Blick
ihrer blutunterlaufenen Augen auf ihn. »Immerhin war sie
sofort tot.« Die harsche Stimme brach. »Das ist alles,
wofür ich dankbar sein kann. Und jetzt lassen Sie mich in
Ruhe, verdammt!«
Sie schlug ihm die
Tür vor der Nase zu.
Er blieb stehen, als
wäre sein eigener Schädel gespalten worden.
Allmählich jedoch begann er, durch den hämmernden Schmerz
hindurch, das Puzzle zusammenzusetzen. Paula musste die Scharade,
dass sie Polin wäre, aufrechterhalten haben, bis nach
Sachsenhausen. Nur war es dann zu spät gewesen. Sie hatte zu
viel gesehen. Man konnte sie nicht wieder freilassen. Aber eine
deutsche Mutter verdiente es, benachrichtigt zu werden. Also hatte
man ihr einen Schupo geschickt, der ihr eine Geschichte
erzählen sollte. Und sie war nicht ganz gelogen. Diese
Mistkerle hatten ihr vermutlich tatsächlich den Schädel
gespalten.
Kraus versuchte, sich
zusammenzureißen, aber während er hinunterging,
spürte er Schritt um Schritt, wie seine Muskeln ihren Dienst
aufgaben, einer nach dem anderen. Als er das Erdgeschoss erreichte,
gaben seine Beine nach. Er glitt an der Wand hinab, hockte auf dem
Boden und jammerte, fast wie ein Tier, während er sich die
Arme über den Kopf hielt, als würde er geschlagen. Bilder
von Paula zuckten durch sein Hirn. Er sah sie ganz deutlich, wie
sie in ihrem Smoking und der seidenen kurzen Hose über die
Tauentzienstraße stolzierte. Er erinnerte sich an den
Can-Can, den sie ihm vorgeführt hatte, an ihre hüpfenden,
weißen Brüste, die in dieses enge, pinkfarbene Kleid
gequetscht waren, als sie auf 1933 angestoßen
hatten.
Er hockte schluchzend
da, unfähig, damit aufzuhören, während seine
Schultern krampfhaft zuckten.
War er besser als die
Nazis, die sie umgebracht hatten? Warum hatte er sie nur gehen
lassen? Weil sie morphinsüchtig gewesen war? Weil sie sich
gern schlagen ließ? Machte sie das vielleicht zu einem
Untermenschen? Jemand, mit dem man … herumexperimentieren
konnte?
Andererseits hatte er
es nicht von ihr verlangt. Die ganze Idee war ja überhaupt von
ihr gekommen. Sie hatte ihn angefleht, gehen zu dürfen, hatte
ihn verflucht, weil er ihr die eine Chance versagte, etwas Sinnvolles
mit ihrem Leben anzufangen.
Was auch immer das
bedeuten mochte.
Sie war eine besondere
Frau gewesen. Nur hatte das Leben ihr nie eine echte Chance
gegeben. Wer weiß, vielleicht waren die wenigen Wochen, in
denen sie zusammen gewesen waren, die besten, die sie je erlebt
hatte.
Für ihn waren sie
auch nicht schlecht gewesen.
Schließlich
versiegten seine Tränen. Er zog sein Taschentuch heraus,
wischte sich das Gesicht ab und hob langsam den Kopf. Mit feuchten,
müden Augen bemerkte er eine Traube von Kindern im Flur, die
ihn fasziniert anstarrten, als wäre er so eine Art Charlie
Chaplin.
Am nächsten
Morgen wirkte der Himmel so blau wie gemalt. Kraus spürte
jeden schmerzenden Muskel in seinem Körper, während er
und Gunther mit einem neutralen Opel nach Oranienburg fuhren.
Allmählich setzte sie ihm zu, diese Welt, in der sie lebten.
Es war ihm fast unmöglich, zu glauben, dass Paula nicht mehr
hier war. Und dass er sie hatte gehen lassen. Wie hatte er nur so
dumm sein können, so idiotisch leichtsinnig? Die arme Paula!
Obwohl Gunther von den disziplinarischen Maßnahmen gegen
Kraus schockiert war, ließ er den Mut nicht sinken.
»Wir finden diese bulgarische Prinzessin, Chef«, sagte
er immer wieder. »Sie werden schon sehen! Zehn Tage sind eine
lange Zeit, Chef.«
Kraus hatte nicht das
Herz, es ihm zu sagen. Bis zum Thorrablot war er längst aus
dem Dienst ausgeschieden und stand draußen in der Kälte,
bei den anderen
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