Schlafwandler
schob.
»Können Sie mir sagen, wonach es hier so schrecklich
stinkt?«
»Tut mir
leid.« Sie deutete auf ihre Nase. »Ich bin ziemlich
erkältet. Ich rieche gar nichts.«
»Gestank?«
Der Postbeamte wirkte verblüfft. »Ich rieche nichts, es
sei denn, Sie meinen den Geruch, der von dem Italiener dort
herüberweht.« Er deutete auf ein Restaurant. »Er
benutzt immer viel zuviel Knoblauch. Ganz gleich, wie oft wir ihm
sagen: ›Vincenzo, das hier ist nicht Italien. Wir sind hier
in Deutschland.‹«
»Diese Leute
haben vollkommen den Verstand verloren.« Gunther drückte
sich ein Taschentuch an die Nase. »Wie kann man so etwas
ignorieren?«
Kraus stimmte ihm zu.
Sie waren verrückt geworden, ganz recht.
Sie waren
verrückt vor Angst.
Über das
Märchendorf hatte sich eine düstere Wolke gelegt. Die
Wolken verdunkelten die gekalkten Gebäude, die plötzlich
drohend wirkten. Die Schwäne waren fort. Und zum ersten Mal
zog Kraus die Möglichkeit in Betracht, dass sie es hier
tatsächlich mit etwas zu tun hatten, das zu groß war, zu
monströs, um noch aufgehalten werden zu können. Dass
ihnen eigentlich nur noch die Möglichkeit blieb,
wegzulaufen.
Auf der anderen
Straßenseite bemerkten sie eine ältere Frau, die sie
durch ein Ladenfenster beobachtete. Als sie sah, dass sie ertappt
worden war, zog sie sich sofort hinter die Vorhänge
zurück.
Kraus stieß
Gunther mit dem Ellbogen an. »Unternehmen wir noch einen
letzten Versuch.«
Wie sich
herausstellte, gehörte das Geschäft einem
Gebrauchtmöbelhändler und war bis zur Decke mit alten
Schreibtischen, Lampen, Stühlen und Aktenschränken
vollgestopft. Die Frau, die am Fenster gestanden hatte,
beschäftigte sich eifrig damit, die Möbel abzustauben,
und tat, als hätte sie niemanden bemerkt. Sie hatte ein
einfaches Gesicht, kurzes graues Haar und einen nervösen Tick,
der ihre Wange zucken ließ, als bekäme sie kleine
Stromschläge.
»Schönen
Nachmittag«, sagte sie schließlich, als sie die beiden
Männer nicht weiter ignorieren konnte. »Kann ich Ihnen
behilflich sein?«
Kraus konnte nicht
antworten. Auf der anderen Seite des Gangs war sein Blick auf etwas
gefallen, das ihm wie ein echtes Wunder erschien. An der Seitenwand
eines alten, hölzernen Schreibtischs klebte ein Schild, auf
dem in Bleistift die großen Buchstaben geschrieben standen:
EIGENTUM ANSTALT ORANIENBURG.
Er wurde wie
magnetisch davon angezogen.
»Die Anstalt
Oranienburg.« Er bemühte sich, nicht so zu klingen, als
hätte er gerade eine Vision gehabt. »Ich dachte, dass
sie schon vor Jahren geschlossen wurde.«
Der Tick der Dame
verstärkte sich. »Ach so.« Ihre ganze Wange
verkrampfte sich. »Ja, natürlich, das ist auch so. Aber
… verstehen Sie …« Sie hämmerte wie von
Sinnen auf die Rufglocke.
»Bist du
verrückt geworden, Liesel?« Ihr Ehemann tauchte aus dem
Büro im hinteren Teil des Ladens auf. »Hältst du
mich für taub, oder …?« Er verwandelte sich
schlagartig in ein Muster an Liebenswürdigkeit.
»Meine Herren
… schön, Sie zu begrüßen. Wenn Sie
Büromöbel suchen, sind Sie bei uns
richtig.«
Die Frau streckte
abwehrend die Hand aus. »Aber, mein Lieber, diese Herren sind
von der …«
»Hunderte
Möbelstücke in allen möglichen Stilen.« Er
schob seine Frau unwillig zur Seite. »Das ist unser Motto.
Vielleicht haben Sie ja unsere Reklame im Radio gehört:
›Greitz: Hunderte Möbelstücke in allen
möglichen Stilen.‹«
»Mir ist
aufgefallen, dass Sie einen Schreibtisch von der alten Anstalt
Oranienburg haben.«
»Einen? Wir
haben Dutzende Schreibtische aus der Anstalt, werter Herr, und dazu
Stühle und Aktenschränke. Wir haben sogar alte Uhren aus
der Anstalt. Und da, wo sie herkommen, gibt es noch viel mehr
…«
Seine Frau zerrte an
seinem Arm und warf ihm einen verzweifelten Blick zu. Halt um
Himmels willen den Mund!, besagte er.
»Wenn Sie an
einem Großeinkauf Interesse haben«, er schob ihre Hand
ungeduldig zur Seite, »dann werden Sie nirgendwo eine bessere
Gelegenheit finden, das versichere ich Ihnen.«
»Und Sie lagern
diese Möbel hier, seit die Anstalt vor einigen Jahren
geschlossen wurde?«
»Um Himmels
willen, selbstverständlich nicht! Ich habe den
größten Teil davon erst letztes Jahr gekauft. Die
Anstalt wird renoviert.«
»Renoviert? Wer
renoviert da?«
»Wer?« Das
Lächeln des Händlers verlor einiges an Strahlkraft.
»Na ja … die Leute, die sie übernommen haben. Die
Möbel sind großartig, finden Sie nicht?
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