Schlafwandler
Paula.
Fritz’ Schmiss
wurde fast schwarz vor Wut. »Mein Gott! Diese Affen schrecken
wirklich vor nichts zurück. Und dass sie dir jetzt auch noch
drohen …«
»Ich bin nicht
wichtig.«
»Ich rufe von
Schleicher an.«
Fritz griff nach dem
Telefon.
Kraus hielt ihn auf.
»Fritz, ich brauche von dir vor allem Hilfe bei der Planung
eines neuen Spähangriffs – der diesmal Erfolg haben
muss.«
»Willst du damit
sagen … du hast Sachsenhausen gefunden?«
Kraus musste
unwillkürlich grinsen.
Eine Stunde
später saß er wieder an seinem Schreibtisch im
Polizeipräsidium. Der Besuch seines neuen Stellvertreters
ließ nicht lange auf sich warten.
»Sehr gut,
Inspektor.« Kriminalassistent Thurmann betrat sein Büro,
ohne anzuklopfen. »Wie es aussieht, haben Sie Freunde in
hohen Ämtern. Sogar in den höchsten Ämtern.
Jedenfalls vorläufig.«
»Ich habe keine
Ahnung, was Sie meinen.« Kraus sah weiter seine Post
durch.
»Wirklich
nicht?«
Er blickte gerade
rechtzeitig hoch, um das Grinsen auf Thurmanns schnurrbärtigem
Gesicht zu bemerken.
»Sie haben
vielleicht eine Schlacht gewonnen, aber Sie werden den Krieg nicht
gewinnen, Kraus, das versichere ich Ihnen. Der Tag der Abrechnung
naht. Heil Hitler!« Er riss den Arm hoch und
verschwand.
Kraus blieb
verblüfft zurück.
Offenbar hatte Fritz
von Schleicher doch angerufen.
Anscheinend war seine
disziplinarische Probezeit zurückgenommen worden.
Er wusste nicht,
worüber er sich mehr wundern sollte. Über die schnelle
Intervention des Reichskanzlers zu seinen Gunsten oder
darüber, dass Thurmann – offenbar felsenfest davon
überzeugt, den »Krieg« zu gewinnen – seinem
Vorgesetzten gegenüber derartig unverschämt
auftrat.
Am nächsten
Morgen tauchte Gunther mit einem wahren Schatz auf. Er hatte nicht
nur Bücher gefunden, sondern detaillierte Karten und
Baupläne, die den gesamten Komplex der Anstalt Oranienburg
zeigten.
»Ich habe mich
mit einer Bibliothekarin angefreundet.« Er grinste stolz
über das ganze Gesicht. »Sie war echt
süß.«
»Ein Hauch von
Don Juan kann einem Kriminalkommissar nie
schaden.«
»Was auch immer
Sie glauben …«, seine Miene wurde ernst,
»… sagen Sie bloß Christina nichts
davon!«
Kraus verbrachte den
ganzen Morgen mit diesen Dokumenten und war sehr schnell nicht nur
von der komplexen Architektur der alten Anstalt fasziniert, sondern
auch von der beeindruckenden Rationalität, die hinter dieser
Konstruktion stand. 1866 in der Regierungszeit von Kaiser Wilhelm
I. erbaut, war die Anstalt für Geistesgestörte und
Schwachsinnige die erste in Europa gewesen, die den Prinzipien
eines gewissen Dr. Thomas Kirkbride folgte, einem amerikanischen
Verfechter der Theorie der Determination des Willens durch
Umwelteinflüsse. Vernünftige Gebäude, daran hatte
der gute Doktor fest geglaubt, erzeugten vernünftige
Menschen.
Laut Kirkbride musste
eine ideale Anstalt in einer wunderschönen Lage erbaut werden,
am Wasser oder auf einem Hügel, und aus einem
Hauptgebäude mit mehreren Flügeln bestehen, die so
angeordnet waren, dass sie in etwa ein »V« bildeten, so
dass alle Patienten gleichermaßen in den Genuss von
schöner Aussicht und frischer Luft kamen. Eine derartig
ansprechend strukturierte, gesunde Umwelt würde – so
glaubte der Arzt – die »natürliche Balance der
Sinne« wiederherstellen und ein Gefühl von
»Familienleben« erzeugen. Diät, Leibesübungen
und Arbeit waren für seine Therapie ebenfalls unverzichtbar.
Er ließ seine Patienten Äcker bestellen, Kühe
melken und Schweine füttern. Das bedeutete eine
radikale Abkehr von
dem jahrtausendealten Glauben, dass die einzige Lösung im
Umgang mit Verrückten die war, sie einzusperren. Dr.
Kirkbrides Philosophie repräsentierte die fortschrittlichsten
Gedanken seiner Zeit, nämlich dass man die geistig Kranken
heilen konnte.
Fünfzig Jahre
lang war Oranienburg die modernste Anstalt in Deutschland gewesen
und hatte in ihren besten Zeiten bis zu zweitausend Patienten
beherbergt, bis der Krieg und die Blockade der Alliierten es
unmöglich machten, eine derart große Einrichtung auf
einer so isolierten Insel weiter zu unterhalten. 1916 wurde
sämtliches als Kriegsgut brauchbare Metall aus der Anstalt
entfernt, und sie wurde geräumt. Bis zum letzten Jahr, als das
Institut für Rassenhygiene dort Einzug hielt.
Das Telefon klingelte,
und einen merkwürdigen Moment lang schwebte Kraus zwischen
Irrenanstalt und Büro. Manchmal fragte er sich, ob
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