Schlafwandler
der
Unterschied zwischen den beiden Einrichtungen überhaupt so
groß war. Fritz war am Apparat und bestand darauf, dass Kraus
mit ihm zu Mittag aß. Ein Nein als Antwort wollte er nicht
gelten lassen. Kraus seufzte und willigte ein, ihn in einer halben
Stunde im Pschorr-Haus zu treffen.
Ein merkwürdiger
Ort, sich zu treffen, dachte Kraus, als er auflegte.
Das Pschorr thronte
über dem Potsdamer Platz wie eine mittelalterliche Burg und
war nicht nur – laut Eigenwerbung – ein Bierpalast, der
die Berliner wie Könige bediente. In der großen Halle
fanden neunhundert Menschen Platz, an langen Tischen, unter
aufwendigen Holzschnitzereien und glänzenden
Waffenröcken. Neunzehn verschiedene Sorten Würstchen,
sechzehn Arten von Knödeln, sieben verschiedene Senfsorten
… ganz zu schweigen von den weltberühmten eingelegten
Schweinshaxen, und das alles zu Preisen, die sich selbst ein Bauer
leisten konnte. Warum sich Fritz, der sowohl zum
Frühstück, zum Mittagessen und zum Abendessen Champagner
bevorzugte, ausgerechnet hier mit ihm treffen wollte, ging Kraus
nicht in den Kopf.
Wie immer war es im
Pschorr um die Mittagszeit gerammelt voll, und für
Kraus’ Geschmack gab es dort viel zu viele Braunhemden. Er
schlenderte durch die Gänge und suchte nach Fritz,
während er sich immer noch fragte, was das alles
sollte.
Plötzlich blieb
er stehen, als hätte ihm jemand einen Schlag in die Magengrube
versetzt.
Direkt vor ihm
saßen an einem kleinen Tisch nicht nur Fritz, sondern auch
die drei anderen Kameraden ihrer alten Aufklärungseinheit:
Geiger, Richter und Lutz.
Als sie ihn sahen,
standen sie auf wie ein Mann.
Kraus musste gegen die
Tränen ankämpfen.
Geiger, der alte
Sanitäter, der nun als Kinderarzt in Dresden arbeitete, nahm
Haltung an und salutierte zackig. »Kompanie K meldet sich zum
Dienst, Herr Hauptmann!«
Noch Jahre nach dem
Krieg hatten sie sich immer wieder getroffen. Aber mit der Zeit
wurde es immer schwieriger, diese Treffen zu arrangieren. Bis zum
Jahr 1928 hatte es geklappt, jedenfalls glaubte Kraus sich daran zu
erinnern. Damals hatten sie das zehnjährige Jubiläum des
Waffenstillstandes gefeiert. So viele Jahre … Aber was
bedeutete das schon für Männer wie diese fünf hier
am Tisch? Die Bande, die sie geknüpft hatten, waren
unauflöslich. Die Narben, die sie trugen, hatten sie tief
gezeichnet und waren noch deutlich zu sehen.
Geigers Ohr, das von
einem Granatsplitter schrecklich zerfetzt worden war, hielt als
Pointe für ein ganzes Dutzend Witze her, die Geiger selbst
auftischte, damit seine Patienten lachten, anstatt angewidert davor
zurückzuschrecken. Richter, der beste Drahtknipser der
kaiserlichen Armee, hatte mehr als einen Hautfetzen an den
Stacheldraht verloren. Lutz, der alte Spionageexperte, hatte
französische Einheiten an den Flüchen erkennen
können, die sie benutzten. Er arbeitete als Buchhalter in
einem der großen Frankfurter Bankhäuser, obwohl er drei
Finger in Frankreich gelassen hatte. Fritz war jahrelang von
Albträumen verfolgt worden und sprang auch jetzt noch
gelegentlich mitten in der Nacht schweißgebadet aus dem Bett.
Nur Kraus war einigermaßen unbeschadet aus der ganzen Sache
herausgekommen. Warum, wusste er selbst nicht. Vielleicht, so
dachte er manchmal, hatte ihn sich das Schicksal als Nachtisch
aufgespart.
»Lutz ist mit
dem Nachtzug aus Frankfurt gekommen«, strahlte Fritz.
»Und Geiger ist vor knapp zwanzig Minuten am Bahnhof Potsdam
ausgestiegen.«
»Ich verstehe
nicht …«
»Hauptmann
Kraus.« Lutz salutierte mit seiner zweifingrigen rechten
Hand. »Wir haben gehört, Sie haben einen
Auftrag.«
Kraus spürte
schon wieder dieses peinliche Brennen in den Augen.
Rädelsführer
von Hohenzollern fuhr mit seinem Bericht fort. »Richter ist
jetzt auf der Schießanlage Tegel stationiert,
Willi.«
»Ich bin
Quartiermeister.« Richter warf sich in die Brust.
»Er sagt, dass
sie dort unsinkbare Gummiboote mit Außenbordmotoren haben.
Damit ist man in zwanzig Minuten in Oranienburg. Wir können
flussaufwärts fahren, die Motoren ausstellen, in den Kanal
rudern und herausfinden, was die Mistkerle in dieser Anstalt
treiben.«
Kraus schnürte es
die Kehle so fest zusammen, dass er kaum sprechen konnte. »Es
ist zu gefährlich. Lutz und Geiger … Ihre Familien. Und
Fritz …«
»Schon
gut.« Fritz’ Narbe rötete sich. »Es ist
schon alles vorbereitet, Willi. Heute um
Mitternacht.«
FÜNFUNDZWANZIG
Wie schwarz die Nacht
war und wie kalt!
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