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Schlafwandler

Schlafwandler

Titel: Schlafwandler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
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wegen
verlassen!«, meinte Gunther.
    Etwa hundert Meter
nach der nächsten Biegung lag die alte Gerberei auf der
rechten Seite. Es war ein langes, schuppenartiges Gebäude aus
unbehandeltem Holz direkt am Fluss. Kraus parkte neben der
Straße, und sie luden ihre Pistolen. Als sie auf eine nahe
gelegene Anhöhe krochen, um sich einen Überblick zu
verschaffen, hörten sie etliche markerschütternde
Schreie.
    »Allmächtiger
Gott«, stieß Gunther hervor.
    Unter ihnen befand
sich eine kleine, karge Wiese. Dahinter stand die qualmende,
baufällige Gerberei. Und in der Mitte des Grüns kniete
ein Dutzend wild kreischender Kinder nebeneinander. Sie waren
vollkommen in ihr Spiel vertieft. Bockspringen.
    Kraus
lachte.
    Nach der großen
Depression hatten Tausende ihr Heim verloren. Und einige Dutzend
von ihnen hatten offensichtlich hier Unterschlupf gefunden. Vor dem
alten Gebäude bemühten sich ein paar zerlumpt wirkende
Frauen, bei dem starken Wind ihre Wäsche auf die Leinen zu
hängen. Zwei Männer luden Kisten von einem klapprigen
Lastwagen. Das hier war eindeutig nicht Sachsenhausen.
    Sie gingen zum Wagen
zurück und fuhren dann einen Kilometer weiter, bis sie sich
den Oranienburger Ziegelwerken näherten. Aus den Toren fuhren
rumpelnde Lastwagen, die mit roten Ziegelsteinen beladen waren, und
nahmen an ihnen vorbei Kurs auf die Stadt. Ein heißer,
körniger Dunst hing in der Luft. Aber es roch nicht
verfault.     
    Laut der Karte zweigte
einen weiteren Kilometer entfernt eine Straße zu einer
Brücke ab, die direkt zur Anstaltsinsel führte. Doch die
asphaltierte Straße endete unmittelbar hinter der
Ziegelfabrik. Nur ein kläglicher Feldweg führte in den
Wald.
    »Nun, mein
Junge«, Kraus schaltete herunter, »halten Sie Ihren Hut
gut fest.«
    Der Opel nahm jede
Wurzel und jedes Schlagloch, als wäre es sein letztes. Gunther
stieß sich mehr als einmal den Kopf am Dach. Aber sie fuhren
weiter, und Kraus’ Nerven spannten sich mit jeder Minute mehr
an. Er hasste diese gottverdammten düsteren Wälder. Man
wusste nie, was einen hinter der nächsten Biegung erwartete.
Zum Glück fanden sie dann bald die Abzweigung und sahen die
Brücke vor sich liegen. Eine Barrikade aus Stacheldraht
versperrte ihnen den Weg.
    Sie stiegen
aus.
    Ein großes
Schild verkündete unmissverständlich: Eintritt streng
verboten! Es wirkte ziemlich neu. Ein
zweites Schild unter dem Stacheldraht zeigte einen Totenkopf mit
gekreuzten Knochen. Daneben stand eine unübersehbare
Warnung: Minen!
    »Das ist ein
Bluff!« Gunther hegte keinerlei Zweifel. »Wer
würde eine Stunde von Berlin entfernt Minen in den Boden
eingraben? Wo sollten sie diese Dinger überhaupt
herhaben?«
    Er wollte den Draht
durchschneiden und einfach weiterfahren.
    Vielleicht hat er
recht, überlegte Kraus. Vielleicht war es wie bei diesen
Leuten, die Schilder mit Warnungen vor einem gefährlichen
Hunde aufstellten, obwohl sie nur einen Pudel hatten. Aber eine
Mine genügte. Und er wollte seine Jungs
wiedersehen.
    Und zwar schrecklich
gern.
    »Wir sollten es
lieber ausprobieren, Gunther.«
    Der Kriminalassistent
sammelte einige Steinbrocken auf und begann, sie über die
Barrikade zu werfen. Ein Brocken nach dem anderen landete harmlos
auf dem Boden.
    »Sehen Sie? Nur
ein Riesenbluff! Kommen Sie, Chef, schneiden wir den Draht
durch!«
    Ein lautes Rascheln
ließ sie verstummen. Ein Wildschwein brach durch die
Büsche und rannte zur Brücke. Es schnaufte aufgeregt, als
wäre es wütend, dass sie es aus dem Schlaf aufgeschreckt
hatten. Gunther und Kraus lachten schallend.
    Bis das Tier in
Stücke zerrissen wurde.

VIERUNDZWANZIG
    Sie holperten
über den Feldweg zurück nach Oranienburg. Kein Wunder,
dass das Lächeln der Leute in dieser Stadt wie festgefroren
gewirkt hatte, dachte Kraus. Wer auch immer im Verborgenen die
Fäden zog, er war verdammt entschlossen und ausgezeichnet
bewaffnet. Als sie aus dem Wald kamen, sahen sie, dass sich das
Wetter verschlechtert hatte. Der blaue Himmel war steingrau
geworden, und der Wind hatte aufgefrischt. Er kam von
Süden.
    »Gunther.«
Kraus spürte, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten.
»Holen Sie mal tief Luft.«
    »Herr im
Himmel!« Gunther hustete.
    Der Geruch war
unverkennbar. Er hatte ihn Hunderte von Malen in der Nase gehabt.
An der Westfront. Und in der Leichenhalle am Alex.
    Verfaulendes
Fleisch.
    Und keine
Menschenseele in der Stadt wollte das zugeben.
    Gunther fragte eine
junge Mutter, die einen Kinderwagen vor sich her

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