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Schlafwandler

Schlafwandler

Titel: Schlafwandler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
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und danach die Insel mit dem Armenfriedhof. Weiter
stromaufwärts gab es eine Mole, wo die Boote anlegten, die die
Toten herbrachten. Dort konnten sie anlanden, die Boote verstecken
und zu Fuß zu der Brücke gehen, die zur Anstaltsinsel
hinüberführte.
    Alles war genauso, wie
es sein sollte. Die Landzunge tauchte auf, dann weiter geradeaus
… die Toteninsel. Sie war vollkommen überwuchert, ein
trübes, flaches Panorama aus Buschwerk. Kein Kreuz markierte
auch nur einen der Tausenden, die hier begraben waren. Als sie sich
der Mole näherten, überlief es Kraus kalt. In dem grauen,
eisigen Wasser lag ein Bootsskelett – die halb versunkenen
Überreste eines Fährbootes, das vollkommen
ausgeschlachtet worden war. Über den Spanten des Rumpfs war
der Name jedoch noch zu erkennen:
    
    Fluss
Styx. Dem
Bootsanleger war es auch nicht viel besser ergangen. Als sie
hinaufkletterten, mussten sie aufpassen, dass sie nicht durch die
klaffenden Löcher fielen. Sie zogen die Boote aus dem Wasser
und verbargen sie in den Büschen.
    Das hüfthohe Gras
raschelte, als es sich unter ihren Füßen neigte. Es roch
nach Sumpf und Marsch. Kraus wusste, dass sie mit jedem Schritt
über die letzte Ruhestätte einer verarmten Seele
schritten. Eine halbes Jahrhundert lang waren mittellose Berliner
und Brandenburger in dieser sumpfigen Einöde beigesetzt
worden. Welche Unbill ihnen wohl widerfahren war, dass sie hier
landeten, wo sie für alle Ewigkeit vergessen lagen wie Tiere,
nicht wie Menschen? Plötzlich jedoch hörte das hohe Gras
auf, und sie starrten auf etwas, das nicht auf der Karte
verzeichnet war. Langsam wachsendes Entsetzen beschlich sie. Vor
ihnen befanden sich zwei parallele Gräben, jeweils etwa zwei
Meter breit und fast zwanzig Meter lang, die mit schwarzer,
frischer Erde bedeckt waren. Sie hatten keinen Zweifel, was das
war. Es wurden wieder Menschen auf der Toteninsel
begraben.
    »Mein
Gott!«, stammelte Geiger. »Was geht in dieser Anstalt
vor?«
    Kraus schwieg grimmig
und sog tief die Luft ein. Der frische Wind aus nördlicher
Richtung roch nur nach feuchter, fruchtbarer Erde, nicht nach
verwesendem Fleisch.
    Der Gestank, der
Oranienburg heimsuchte, kam nicht von der Toteninsel.
    Er musste von weiter
südlich kommen … von der Insel mit der
Anstalt.
    Kraus war ungeheuer
dankbar, dass die Fußgängerbrücke nicht von
SS-Männern bewacht wurde. Es gab auch kein Licht oder
Schilder, die vor Minen warnten. Nur dunkle, dicke Wolken und
raschelnde Blätter.
    »Vorwärts«,
flüsterte er. Es war ihm nicht einmal peinlich, dass seine
Stimme vor Aufregung zitterte. Er war viel zu erleichtert
darüber, dass er diesen Ort endlich gefunden hatte.
    Nur war der Preis
dafür zu hoch gewesen.
    Kraus hatte sich die
ganze Strecke, die ganze Mission, peinlich genau eingeprägt.
Um so viel wie möglich in Erfahrung zu bringen, würden
sie einmal von Nordosten nach Südwesten um die Anstaltsinsel
herumgehen und dabei die Einrichtungen, den Zustand der Gefangenen
und die genaue Zahl der Wachen auskundschaften. Er hoffte nur, dass
nicht zu viele SS-Leute dort waren. In seiner schlimmsten Phantasie
stellte er sich in der Thorrablot-Nacht eine Schlacht zwischen der
Wehrmacht und den Nazis vor. Gott allein wusste, was dann passieren
würde … Es könnte einen Bürgerkrieg
auslösen. Aber jetzt, wo sie über das nordöstliche
Ufer der Insel schlichen, zirpte nicht einmal ein Vogel. Sie
hörten nur das sanfte Plätschern der Wellen an der
Böschung.
    Als der Kompass nach
Norden zeigte, erreichten sie die Brücke zum Festland, die mit
Minen gesichert war. Kraus führte seine Abteilung in die
entgegengesetzte Richtung, zur alten Anstalt, deren dunkle
Silhouette sich auf dem Hügel gegen den Himmel abzeichnete.
Der Schotterweg, der dorthin führte, war von zwei Reihen
knorriger Bäume gesäumt, hinter denen riesige
Rasenflächen lagen, die jetzt von Unkraut überwuchert
waren. Diese Rasenflächen waren früher, wie Kraus wusste,
von Legionen von Patienten gepflegt worden. Jetzt war das
Gefühl von Verlassenheit, von Leere beinahe
überwältigend. Nicht ein einziger Lichtschimmer
durchdrang die Dunkelheit. Der Wind trug keine einzige Stimme
heran. Als wäre die ganze Insel verlassen. Aber das war sie
nicht.
    Im Licht ihrer
Taschenlampen erreichten sie nach einem kurzen Anstieg das Torhaus
aus Granit, an dessen Wänden Reliefs von Lämmern und
Heiligengesichtern eine wahre Idylle beschworen, und darüber
prangte im Halbrelief ein Motto: ARBEIT

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