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Schlafwandler

Schlafwandler

Titel: Schlafwandler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
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Hoffnung und Furcht rangen miteinander in
Kraus’ Herz. Er hatte mit diesen Männern so
aufwühlende Erlebnisse überstanden, in den Feldern vor
Passendale, an den Ufern der Somme. Aber diesmal hatte er das
Gefühl, dass weit mehr auf dem Spiel stand. Sie waren keine
Kinder mehr. Und sie schienen nicht nur das Schicksal ihres
Vaterlandes auf den Schultern zu balancieren, sondern das der
gesamten zivilisierten Welt.
    Dabei hätte ein
Außenstehender die ganze Operation leicht für eine
Keystone-Komödie halten können. Fünf Männer in
den Dreißigern – einer mit einem verstümmelten
Ohr, einer mit einer verstümmelten Hand, einer, der den Arm in
einer Schlinge trug, und einer, dessen Gesicht so entstellt war,
dass er fast aussah wie Frankensteins Monster –, die auf
Zehenspitzen aus einem Lagerhaus im Reichswehrstützpunkt Tegel
schlichen und versuchten, zwei motorisierte Schlauchboote zu
stehlen. Es war fünfzehn Jahre her, dass sie als Gruppe
zusammengearbeitet, sich durch die feindlichen Linien geschlichen
hatten, ganz nah an Maschinengewehrnester und Truppenlager
herangekrochen waren. Damals hatte das Zucken einer Braue
genügt. Als sie jetzt jedoch versuchten, das Ufer zu
erreichen, das nur knapp hundert Meter entfernt war, konnten sie
trotz all ihrer heftigen Gesten und beredten Mimik nicht
verhindern, dass sie sich ständig touchierten und mit den
Bäumen zusammenstießen und die Schlauchboote dabei fast
durchlöcherten. Richters entstelltes Gesicht war steif vor
Angst, während er immer wieder auf die nahegelegenen Baracken
deutete und die anderen anflehte, keinen Lärm zu verursachen.
Seine Pflicht als Quartiermeister schloss zwar die Aufsicht
über diese Schlauchboote ein, aber dass er sie ohne Erlaubnis
einfach requiriert hatte, würde ihn in den Bau
bringen.
    Kraus mühte sich,
das Boot festzuhalten, und wurde immer gereizter, während das
Gefühl an ihm nagte, dass er schon hier gewesen war. Und zwar
nicht nur einmal, sondern schon oft. Dann traf ihn die Erkenntnis
wie eine Granate. Natürlich … Das Zeppelin-Flugfeld.
Dieser Schießstand lag genau da, wo früher die
Luftschiffe gestartet und gelandet waren. Wie er sie als kleiner
Junge geliebt hatte! Er hatte seinen Eltern ständig in den
Ohren gelegen, mit ihm hierherzugehen. Das Bild, wie der LZ 6, der
drei Wohnblocks lange Zeppelin, sich wie eine gigantische Zigarre
in den wolkenlos blauen Himmel erhoben hatte, war in sein
Gedächtnis eingebrannt. Tausende hatten an jenem Tag im Jahr
1906 diese Felder gesäumt, um beim Jungfernflug dabei zu sein.
Und nicht nur der neunjährige Willi, sondern alle hatten
geglaubt, dass Graf Zeppelins Wunderwerk das Land Deutschland
selbst symbolisierte, wie es sich erhob, um den ihm
gebührenden Platz in der Welt einzunehmen. Sie hätten
allein die Idee lächerlich gefunden, dass kaum ein Jahrzehnt
später dieselben Zeppeline Bomben auf London abwerfen
könnten. Nie hätten sie sich vorstellen können, dass
alles, was sich nach 1914 ereignete, passieren könnte. Und
doch war genau das geschehen.
    Die
Schützengräben. Die Panzer. Das Giftgas.
    Einen Moment riss die
Wolkendecke über ihnen auf. Ein einzelner Stern leuchtete.
Endlich tauchte auch die breite Havel vor ihnen auf. Kraus fasste
Mut, als sie die Boote ins Wasser ließen, an Bord gingen und
die Motoren anwarfen. All die angestaute Angst, die er mit sich
herumgeschleppt hatte, verdichtete sich zu Entschlossenheit. Auf
der anderen Seite dieser Dunkelheit lag Sachsenhausen. Diesmal
wusste er genau, wo es sich befand.
    Geiger, Richter und
Lutz saßen in einem Boot, Fritz und er in dem anderen. Eisige
Gischt peitschte ihnen ins Gesicht, als sie über das Wasser
rasten. Wenigstens war Kraus diesmal besser vorbereitet. Er trug
eine gefütterte Jacke und Lederhandschuhe. Sein Magen war
leer. Sie alle trugen schwarze Kleidung und hatten sich auch die
Gesichter geschwärzt, um mit der Dunkelheit zu verschmelzen.
Das alte Erkundungsteam war unterwegs. Aber wie bewegt das Wasser
war! Jedes Mal, wenn das Boot eine Welle traf, zitterten Kraus alle
Knochen im Leib. Laut Karte sollte es jedoch nicht lange dauern,
bis sie die Abbiegung erreicht hatten.
    Als der kleine
Flussarm schließlich auftauchte, beschleunigte sich sein
Herzschlag. Sie stellten die Motoren ab und mussten gegen die
starke Strömung anrudern, um in den Flussarm zu gelangen.
Kraus hatte sich die Karte sehr genau eingeprägt und wusste,
dass hinter der nächsten Biegung eine Landspitze auftauchen
würde

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