Schlag auf Schlag
es sich hierbei wohl um die Pathologie handeln musste. Myron, das Medium. Er nahm sich zusammen und klopfte.
Eine freundliche Frauenstimme zirpte: »Herein.«
Der Raum war klein und roch nach Putzmitteln. Die Einrichtung war in Metall gehalten. Zwei einander gegenüberstehende Schreibtische, beide aus Metall, nahmen das halbe Zimmer ein. Metallregale. Metallstühle, diverse Tabletts und Behälter aus Edelstahl. Kein Blut. Keine Organe. Alles sauber und glänzend.
Myron war wirklich häufig Zeuge von Gewalt geworden, trotzdem wurde ihm beim Anblick von Blut immer noch mulmig, wenn die Gefahr erst einmal vorbei war. Ungeachtet dessen, was er Jessica vorhin erzählt hatte, mochte er keine Gewalt. Er war gut darin, körperliche Gewalt auszuüben, das ließ sich kaum leugnen, aber es gefiel ihm nicht. Ja, Gewalt war die Gelegenheit, bei der der moderne Mensch seinem wahren, primitiven Ich nahe kam, seinem ursprünglichen Naturzustand, dem Locke'schen Ideal, wenn man so wollte, am nächsten war. Und außerdem war es natürlich auch die ultimative Prüfung des Mannes, nicht nur ein Test der reinen Körperkraft, sondern auch der tierischen Urinstinkte und der List. Trotzdem war Gewalt widerlich. Der Mensch hatte - zumindest theoretisch - eine Evolution zur Vernunft durchgemacht. Letztendlich hatte Gewalt tatsächlich etwas Rauschhaftes. Doch das konnte man auch erleben, wenn man ohne Fallschirm aus dem Flugzeug sprang. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte die freundliche Frauenstimme.
»Ich suche Dr. West«, sagte er.
»Sie haben sie gefunden.« Sie stand auf und reichte ihm die Hand. »Sie müssen Myron Bolitar sein.«
Amanda Wests offenes und herzliches Lächeln erhellte selbst diesen Raum. Sie war eine muntere Blondine mit einer hübschen kleinen Stupsnase - ganz das Gegenteil von dem, was er erwartet hatte. Ohne in Klischees verfallen zu wollen, war sie ihm doch etwas zu heiter, zu beschwingt für eine Person, die den ganzen Tag mit faulenden Leichen herumhantierte. Er versuchte sich vorzustellen, wie sie so fröhlich lächelnd einem Leichnam den Bauch aufschnitt. Er konnte sich kein rechtes Bild davon machen.
»Sie wollten etwas über Curtis Yeller wissen?«, sagte sie. »Ja.«
»Ich warte schon sechs Jahre darauf, dass mich mal jemand danach fragt. Kommen Sie hier herein. Da haben wir mehr Platz.«
Sie öffnete eine Tür hinter sich. »Sind Sie zimperlich?«
»Ah, nein.« Mr. Hartgesotten.
Wieder lächelte Amanda West. »Eigentlich sieht man auch gar nichts. Aber manche stellen sich wegen der vielen Schubladen an.«
Sie betraten den Raum. Die Schubladen. Myron stand vor einer Wand mit riesigen Schubladen. Von der Decke bis zum Fußboden. Fünf Schubladen hoch. Acht breit. Das macht vierzig Schubladen. Mr. Schnellrechner. Platz für vierzig Tote. Vierzig faulende Leichen, die gelebt und Familien gehabt hatten, die geliebt hatten und geliebt worden waren, die sich gesorgt, gekämpft und geträumt hatten. Sich anstellen? Wegen ein paar Schubladen? Sie belieben zu scherzen.
»Jake meinte, Sie erinnern sich an Curtis Yeller«, begann er.
»Klar. Das war mein größter Fall.«
»Entschuldigen Sie, das ist jetzt vielleicht etwas unpassend«, sagte Myron, »aber Sie sehen arg jung aus, um vor sechs Jahren schon Gerichtsmedizinerin gewesen zu sein.«
»So unpassend ist das gar nicht«, sagte sie immer noch freundlich lächelnd. Myron lächelte ebenso freundlich zurück. »Ich hatte meine Assistentenzeit gerade hinter mir und habe da zwei Abende in der Woche ausgeholfen. Der Leiter der Gerichtsmedizin hatte mit der Leiche von Alexander Cross zu tun. Die beiden Leichen waren fast gleichzeitig reingekommen. Deshalb hab ich die Voruntersuchung bei Curtis Yeller gemacht. Ich hatte nicht einmal annähernd die Gelegenheit, so etwas wie eine vollständige Obduktion durchzuführen - wobei das zur Feststellung der Todesursache allerdings auch nicht nötig war.«
»Was war die Todesursache?«
»Schusswunde. Er hatte zwei Kugeln im Körper. Eine im unteren linken Brustkorb« - sie lehnte sich zur Seite und zeigte an ihrem Brustkorb, wo die Kugel eingedrungen war - »und eine im Gesicht.«
»Wissen Sie, welche der beiden tödlich war?«
»Der Schuss in die Brust hat kein lebenswichtiges Organ verletzt«, sagte sie. Myron kam zum dem Schluss, dass Amanda West niedlich war. Sie legte beim Reden häufig den Kopf schief. Jess machte das ähnlich. »Der andere Schuss hat ihm das Gesicht weggerissen, als wäre es
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