Schlag weiter, Herz
Bankdrücken geht das nicht mehr weg. Um seinen Bauch und die Hüften hat sich Speck gesammelt, Muskelzeichnung erkennt er da schon länger nicht mehr. Doch wenn er den Arm beugt, springt ein Bizeps hervor, massiv wie eine Kanonenkugel. Sein Rücken geht so in die Breite, dass er in Kampfhosen aussieht, als habe man versucht, ein Cello in einen Geigenkasten zu stecken. Die Wülste, die sich über den Bund der Hose drücken, kann er vertreten. Er ist schließlich nicht mehr der Jüngste, und seine Eitelkeit hat abgenommen, seit es um nichts mehr geht als den nächsten Kampf.
Seitdem Ali weg ist, sucht Mert nach einem Grund, um auf Phuket zu bleiben. Er denkt darüber nach, ein Box-Gym aufzumachen. Es braucht nicht viel, um Boxen zu lernen: einen Ring, Boxsäcke, Springseile, einen Spiegel. Er könnte ein Grundstück kaufen, ein paar Hütten bauen lassen, um sie an Touristen und Wettkämpfer zu vermieten. Das würde seine Grundkosten decken. Nur ein vager Plan. Mert ist ein guter Trainer, das hat er häufig gehört. Um Thai-Boxer zu trainieren, bräuchte er noch einen Titel im Thai-Boxen, eine Legitimation, neben seinen Medaillen und den Zeitungsausschnitten aus vergangenen Zeiten. Oder er müsste ein Turnier gewinnen. Im Schwergewicht nicht unmöglich, sogar in seinem Alter. Er braucht ein Foto, das ihn mit Kränzen um den Hals im Lumpini Stadium zeigt. Das Bild könnte er vergrößern lassen und über dem Ring aufhängen, so wie Nok, sein Thai-Box-Trainer.
Mert rasiert sich. Zwei Furchen verlaufen links und rechts unterhalb der Wangenknochen an den Mundwinkeln vorbei. Er sieht die Narben um seine Augen. Alte Risse, die nicht genäht wurden. Sieht er wegen der Narben alt aus, oder hat sich noch etwas anderes in seinem Gesicht getan, was er selbst nicht erkennen kann? Auf seiner Nase, die in all den Schlachten nur einmal gebrochen war, trägt er einen kleinen Höcker, einen Zentimeter unterhalb der Nasenwurzel. Er hat ein Jugendbild von sich in dem Kästchen mit den chinesischen Motiven gefunden, das ihn mit vierzehn Jahren zeigt. Er erkennt kaum Ähnlichkeit. Er fragt sich, wo die ganze Zeit geblieben ist. Manchmal vergeht sie nicht, dann türmt sie sich hinter einem auf. Als sie Silvester 2000 zusammen feierten, warteten Nadja und Mert vergeblich darauf, dass etwas Besonderes geschah. Als würde das Zahnrad der Geschichte mit einem besonders lauten Krachen weitergedreht, und die Welt müsste einen Moment lang innehalten. Aber dann liefen die Jahre einfach so weiter, flink und geräuschlos.
Zweimal schlägt Mert sich mit der Faust auf die tätowierte linke Brust. Als müsste er seinem Herz signalisieren, dass es langsam Zeit wird, im Takt zu schlagen.
6
Zu Beginn des Films fragte Nadja sich, warum sie überhaupt mit einem wie Mert im Kino saß. Er hatte »Braveheart« vorgeschlagen. Nadja versuchte sich darüber klar zu werden, ob das Nebeneinandersitzen bereits eine Art Einverständnis war, danach noch weiter zu gehen. Sie hatte eine undeutliche, aber beunruhigende Vorstellung davon, was Mert für einer war. Sie hatte ihn in der Mehrzweckhalle in Schwerin mit einem grell aussehenden Mädchen in einer Ecke verschwinden sehen.
Nadja hatte stets ausgeschlossen, dass sie mal mehr als ein paar Worte mit einem der Boxer wechseln würde, die sie über ihren Bruder kennenlernte. Zu selbstbezogen die einen, zu schlicht die anderen.
Allerdings waren die Männer, mit denen Nadja sich bisher eingelassen hatte, ihr schnell auf die Nerven gegangen. Sie machten sich Gedanken darüber, wie sie ankamen, und versuchten Nadja mit einer einstudierten Haltung zu beeindrucken.
Mert hingegen saß schon über zwei Stunden neben ihr und starrte auf die Leinwand, sodass sie fast sicher war, dass er sich nicht traute, sie zu küssen. Obwohl er aussah, als könne er Steine mit der Faust zerschlagen, hatte Mert etwas Unerfahrenes.
Er fragte sich nicht, wie er wirkte. Nadja hatte schon damals im Bus beobachtet, wie Mert sich umgezogen hatte. Alis Spott schien ihm nichts anhaben zu können. Mert war anders als alle anderen Männer, die Nadja kannte. Auch wenn ihr diese Andersartigkeit nicht nur gefiel, so war sie doch fasziniert davon. Hinzu kam eine Ahnung von Gefahr. Etwas, das in Mert schlummerte, unbemerkt von ihm selbst. Dieses Undurchdringliche machte sie neugierig. Mert gab ihr ein Gefühl von Verwegenheit, gleichzeitig fühlte sie sich stärker. Und er verstellte sich nicht.
Nadja schob ihre Hand auf die Armlehne, bis sie Merts
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