Schlag weiter, Herz
Arm berührte. Er nahm ihre Hand und hielt sie. Er tat nichts weiter, sah sie nicht an. Sie hielten einfach nur Händchen. Das hatte Nadja seit der Schulzeit nicht mehr getan. Und seitdem war sie auch nicht mehr so aufgeregt gewesen.
Nadjas Affären und Beziehungen waren nach einem wiederkehrenden Schema abgelaufen. Die Männer versuchten sie für sich zu gewinnen. Nadja schätzte die Bemühungen, entwickelte jedoch keinen Enthusiasmus. Andauernd fragte sie sich, was man tun musste, um dem Bild zu entsprechen, das Menschen sich im Allgemeinen von einer jungen Frau machen, die umworben wird. Sie verstand das Konzept, aber sie war nicht bei der Sache.
Ihr erster Freund in Hamburg hieß Holger, ein dreißigjähriger Versicherungskaufmann. Bei drei Abendessen in Folge erzählte er ihr von seinem Arbeitstag. Nadja hatte Mühe, wach zu bleiben. Holger sprach viel vom Geld, das er verdiente, und vom großen Geld, das er verdienen könnte, wenn er in der Hierarchie weiter aufstieg. Dann versuchte er sich für Nadja zu interessieren.
»Was machst du denn so, außer Chemikalien zu mischen?«
»Ich lese viel.«
»Und was liest du?«
»Eigentlich alles, was mich halbwegs interessiert. Ich lese sogar schlechte Bücher zu Ende, weil es mir sonst keine Ruhe lässt, wie sie ausgehen.«
»Ah, eine Leseratte. Du bist also mehr die Denkerin.«
So erging es Nadja häufig. Nie wurde sie etwas gefragt, das Nachdenken über eine Antwort notwendig machte. Sie wurde eingeordnet, mit einem Zettel beschriftet und fortan so behandelt, wie man annahm, dass sie sei. Die Leseratte, die Labormaus, die Nachdenkliche aus dem Osten.
Wenn Holger Sex haben wollte, verteilte er Kerzen um sein Bett und zündete sie an. Nadja fragte sich, wie er auf die Idee kam, dass sie das in die entsprechende Stimmung versetzen würde. Holger lud sie in ein Sterne-Restaurant ein, in dem man vier Stunden fast regungslos vor Häppchen verharren musste, während er Fachgespräche mit dem Personal führte. Am nächsten Tag konnte er nichts von dem wiedergeben, was ihm erklärt worden war. Nadja hatte nichts gegen Kerzen und gutes Essen. Doch es kam ihr so vor, als würde Holger sich nach Regeln verhalten, die sie nicht kannte und die sie auch nicht lernen wollte. Sie fühlte sich nicht funktionstüchtig und gleichzeitig nicht angesprochen, weder von seinen Liebesbekundungen noch von seinen Komplimenten. Er kannte sie ja nicht mal.
Nach ein paar Monaten wachte Nadja morgens neben Holger auf und ekelte sich vor ihm. Sie konnte nicht darüber sprechen. Es schien ihr unmenschlich, nach der langen Zeit zu erklären, dass sie nie richtig verliebt gewesen war, dass sie nur prüfen wollte, wie so eine Beziehung ablief. Doch sie ertrug Holgers Anwesenheit kaum noch, und da sie die Wahrheit nicht sagen konnte, zettelte sie ein Krisengespräch an. Sie hielt danach noch drei Verabredungen mit wachsendem Widerwillen durch, bis Holger schließlich fragte: »Was stimmt nicht mit dir?«
Nadja bat ihn um ein Gespräch an seinem Designer-Esstisch, bei dem sie so zu wirken versuchte, als müsse sie Tränen zurückhalten. Das Gespräch führte sie nach einem Schema, das sie aus Büchern und Filmen zu kennen meinte.
»Du hast eine Frau verdient, die sich voll auf dich einlassen kann.«
»Aber ich will keine andere. Ich liebe dich.«
»Es tut mir leid, es liegt an mir.«
»Gibt es einen anderen?«
»Nein, das ist es nicht. Ich kann dich einfach nur nicht lieben, weil ich mich selbst nicht liebe.«
Nadja fühlte sich mit jedem Satz noch verlogener und unzureichender. Es dauerte Stunden, bis sie endlich gehen durfte. Monatelang musste sie anschließend gegen Holgers Verständnislosigkeit anlügen. Er schrieb Briefe, rief an, wollte sich wieder und wieder auf einen Kaffee treffen, um alles noch einmal zu besprechen.
Als Nadja sich ein Jahr später von Frank trennte, aus denselben Gründen, die streng genommen keine Gründe waren, dachte sie sich einen anderen Mann aus. Das brachte ihr Beleidigungen von Frank ein, machte die Sache aber klar und endgültig.
Nadja zweifelte an sich. Andere Menschen lernten sich kennen, erzählten sich ihr Leben, waren glücklich, führten eine Beziehung, planten ihre Zukunft, bekamen Kinder, sprachen über das Wetter. Wenn Nadja mit einem Mann zusammen war, kreiste sie um ihre Unzulänglichkeiten. Musste sie die Beziehung beenden, weil sie sich in eine Schublade gesperrt fühlte, fürchtete sie, schon wieder gegen eine Konvention zu verstoßen, die
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