Schlag weiter, Herz
zu Mert, der gegen große Holländer, Schweden oder Australier kämpfte, waren Alis Gegner Einheimische. Zähe Jungs, die sich von Patong bis nach Bangkok kämpfen wollten, ins Lumpini Stadium, den Madison Square Garden Asiens. Ali war besser mit den Fäusten, genau wie Mert, aber er war auch älter als seine Gegner. Bei den kleinen Kämpfern kommt es vor allem auf die Geschwindigkeit an, hauchdünne Zeiteinheiten, die zwischen treffen oder getroffen werden entscheiden. Ali trotzte seinem Körper mehr Härte ab, genau wie Mert. Er besaß Routine, dazu überlegene Technik und Augenmaß, aber gegen den Verlust der Geschwindigkeit war er so machtlos wie gegen Erdbeben, Sonnenfinsternis oder Regen. Ali reiste nach sechs Monaten ab. »Muss ich mir halt doch richtige Arbeit suchen.«
In den Wochen, die sie noch zusammen auf der Insel verbrachten, führte Ali immer wieder sein wildes Tänzchen vor, wenn er Mert aufheitern wollte, aber seine Zeit lief ab.
An seinem letzten Abend hatte Ali ihn gefragt, was er später mal machen wolle, aber Mert hatte keinen Bezug zu später. Er kannte nur jetzt und eine vage Hoffnung auf Nadja.
Die Masseurin klopft Mert zweimal auf die Schulter, nachdem sie ihre Arbeit beendet hat. Er stemmt sich im Liegestütz hoch, setzt sich seitlich auf die Liege und wischt sich aus dem rechten Mundwinkel ein wenig Speichel, der sich bildet, wenn er vor sich hindöst.
Mert geht zurück zur Wohnung. Er sieht seinen Vermieter im Erdgeschoss hinter Glastüren wie in einem Aquarium sitzen, in Unterhosen, vor einem Glas Thong-Whiskey, obwohl es noch nicht mal Mittag ist. Der Vermieter hält die Türen geschlossen, um die Energie der Klimaanlage nicht zu verschwenden. Er fuchtelt hinter der Scheibe mit den Händen, deutet auf die Klimaanlage, dann auf Mert. Seit Merts Einzug macht er Gesten, die Mert bedeuten sollen, dass er auch bei ihm bald eine Klimaanlage einbauen wird. Aber bisher ist es nicht dazu gekommen, und Mert ist es ganz recht so, denn dann wird der Vermieter mehr Miete verlangen und seine Frau mehr Putzgeld, wegen der verbesserten Wohnbedingungen oder weil sie das Apartment an jemand anderen teurer vermieten könnten. Mert kommt mit seinem Geld zurecht, mehr als 400000 Baht hat er an Antritts- und Siegprämien zusammengeboxt, umgerechnet etwa 10000 Euro. Das reicht eine Weile, da Mert seine Unterhaltskosten auf ein Minimum reduziert hat. Auf diese Weise muss er sein Erspartes nicht antasten. Er wird es noch brauchen, wenn er ein Gym aufmachen möchte, wie sein Trainer Nok. Oder eine Bar, wie die Mamasan. Um irgendeine Existenz aufzubauen, die ihn bis ans Ende trägt, wenn das Leben, das er nun schon so lange führt, vorbei ist.
12
Als Mert schon kein Kind mehr war, aber auch nicht erwachsen, hatte er sich einmal drei Tage nicht nach Hause getraut. Zwei Nächte hatte er bei einem ehemaligen Schulkameraden auf der Couch verbracht. Die dritte Nacht hatte er im Park geschlafen.
Er schloss leise auf, aber er hörte, dass seine Eltern in der Küche saßen, miteinander sprachen und ihn vermutlich bemerkt hatten. Er schlich in sein Zimmer, das nur wenig größer war als das Bett, das dort stand. Im Halbdunkel konnte Mert erkennen, dass die Matratze abgezogen war und nackt im Gestell lag. Daneben stapelten sich drei Umzugskisten, in der obersten sah er seinen Lieblingspulli und seine alten Big-Jim-Figuren. Das Madonna- und das Sylvester-Stallone-Poster waren abgenommen, er konnte noch die Reißnägel und Bildfetzen an der Stelle ausmachen, wo sie gehangen hatten. Sein Vater rief ihn aus der Küche. Er fragte nicht, ob Mert da sei, er befahl, dass er kommen solle.
Mert ging in die Küche, wo seine Eltern saßen. Seine Mutter blickte auf den Küchentisch, vor ihr lagen Fehlscheine und sein letztes Jahreszeugnis, die er hinter den Postern hatte verschwinden lassen. Zwei Pornomagazine, die Mert unter seiner Matratze aufbewahrt hatte, lagen neben seinem Vater auf der Küchenbank, darauf ein kleiner Klumpen Haschisch, der in einem seiner Sockenbündel gesteckt hatte. Sein Vater sah ihn streng an. Seine Mutter versuchte zu lächeln, aber es fiel ihr schwer, überhaupt eine richtige Reaktion zu zeigen. Mert setzte sich, sein Vater hob an.
»Du brichst deiner Mutter das Herz«, sagte er. »Und damit machst du mich auch unglücklich.«
Rainer Schulz fühlte sich stets jeder Lage gewachsen. Doch wenn man seine Frau kränkte oder verletzte, traf man damit auch ihn. Mert wusste nicht, wie er seinen Zorn in
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