Schlag weiter, Herz
Monaten fragte Stefan, ob Mert sich an der Miete beteiligen wolle. Stefans Wohnung war zu groß für ihn alleine. Sie lag im schlechteren Teil von St. Georg, nahe am Steindamm. Sie war mit einer schweren Stahltür gesichert, aber innen behaglich. Dielenboden, hohe Decken, drei Zimmer, ein langer Flur, eine große Küche.
Mert hatte sich im kleinsten Zimmer eingerichtet, zwischen einem zusammengeklappten Bügelbrett, einem Regal mit aussortierten Küchengeräten und einem alten Sessel. Nach einem halben Jahr kaufte er sich ein Video-Fernseher-Kombigerät, das er auf den Sessel stellte. Wohnlich wurde es nicht, Nadja war für die Einrichtung zuständig gewesen.
Ein günstiger Nebeneffekt des Zusammenlebens mit Stefan war, dass sich immer Huhn, Reis, tiefgekühlter Spinat und Eier im Kühlschrank befanden. Stefan aß noch wie zu aktiven Zeiten.
Nach der Trennung von Nadja schlichen sich üble Angewohnheiten ein, die Merts Alltag bald ausfüllten. Er trainierte zwar härter denn je, doch nach einem Wettkampf soff er ein paar Tage ohne Maß, nur um sich in der folgenden Wettkampfvorbereitung mit besonders brutalen Trainingseinheiten dafür zu bestrafen. Er trat in einen permanenten Wettbewerb mit sich selbst. Als er so weit war, dass er innerhalb einer Woche mit zwei verschiedenen Frauen geschlafen hatte, arbeitete er daran, mit zwei Frauen an einem Tag zu schlafen. Als auch das geschafft war, machte er sich daran, mit zwei Frauen gleichzeitig zu schlafen. Er stellte Rekorde auf, mit denen man nur in der Umkleidekabine punkten konnte.
Dabei stellte Mert fest, dass Nadja recht gehabt hatte. Es ging nicht um die Frauen, es ging um ihn. Er fühlte sich aufgewertet, wenn er Frauen ins Bett bekam. Leider hielt dieser Effekt nicht besonders lange an. Bumsbekanntschaften zu schließen war einfach, wenn man ein bisschen Abenteuer versprach, sich stark fühlte und im Nachtleben arbeitete. Die Frauen wurden dabei zunehmend austauschbar. Alle außer Nadja. Sie war eine Herausforderung gewesen. Ihretwegen hatte er sich bemüht, weniger asozial zu sein. Er hatte sich mit dem beschäftigt, was sie sagte, und ihr das erzählt, was ihn umtrieb. Sie machte ihn klüger. Je länger ihre Trennung zurücklag, umso mehr stellte Mert fest, dass nicht er sich geändert hatte, sondern Nadja ihn.
Mert wurde Hamburger Schwergewichtsmeister und scheiterte bei der norddeutschen Meisterschaft in der Vorrunde. Im Folgejahr gewann er die norddeutsche Meisterschaft und bereitete sich noch verbissener auf die deutsche Meisterschaft vor. Meistens trainierte er mit Ali, machte zu dieser Zeit aber auch ein letztes Mal Sparring mit Stefan.
Mert brauchte ein paar Sekunden, bis er merkte, dass Stefan ihm nichts mehr anhaben konnte. Größer und stärker war Mert immer schon gewesen. Nun war Stefan alt geworden, während Mert ein gutes Auge bekommen und sein Timing verbessert hatte. Er schlug ansatzlos, dynamisch und ließ seine Gegner keine Sekunde zur Ruhe kommen, auch nicht im Sparring. Nach einer Minute schwanden Stefan die Kräfte, und Mert traf ihn nach Belieben. Nach der fünften Schlagserie blutete Stefan aus Nase und Mund, aber er steckte nicht zurück, sondern griff weiter an. Er bezog seine Prügel mit Anstand. Wer die Hitze nicht aushält, muss raus aus der Küche.
Merts und Stefans Schläge knallten durch die Halle, in der die Kämpfer des BC Einigkeit gegen die Januarkälte antrainierten. Die restlichen Boxer stellten die Arbeit an den Geräten ein, einer nach dem anderen ließ die Fäuste sinken und sah zum Ring. Erst dadurch wurde Kalle Trabert auf das Treiben aufmerksam.
Stefan ging mit gesenktem Kopf nach vorne wie ein Bulle, doch Mert fing ihn mit harten Geraden ab. Dann setze Mert nach, drängte Stefan in die Ecke und schlug Haken, die die Deckung des kleineren Mannes teilten und ihn trafen. Stefan hielt dagegen, schlug in Merts Serien hinein. Kalle unterbrach die Schlägerei mit Gebrüll. »Was macht ihr Kapeiken da eigentlich?«
Mert und Stefan reagierten augenblicklich, ließen die Fäuste sinken, klopften sich mit den Handschuhen gegenseitig ab. Sie lehnten sich nebeneinander über die Ringseile und rangen nach Luft.
»Mert hat mir nur was gezeigt«, sagte Stefan. Er sah übel aus.
Er legte seinen Kopf in den Nacken, zog einen Handschuh aus und drückte das Blut aus seiner Nase. Er ging im Kreis und wartete, bis sein Puls sich wieder beruhigte.
Stefan erinnerte sich an die Abreibungen, die er Mert früher verpasst hatte. Er
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