Schlag weiter, Herz
nahm sich ein Zimmer in der Pension Richter, direkt gegenüber vom Hauptbahnhof. Achtundvierzig Euro die Nacht, inklusive Frühstück. Vor lauter Angst, die Albaner könnten ihm auf der Straße auflauern, verließ er den Raum drei Tage lang nicht. Er sah fern, bestellte sich Pizza aufs Zimmer, fühlte sich hundeelend. Kalter Schweiß, die ganze Zeit. Mert war sich nicht sicher, ob es an der Angst lag, die er neu kennenlernte, oder am Kokain, das ihm fehlte.
In der vierten Nacht träumte er davon, wie er Nadja durch die Stadt folgte. Sie ging Arm in Arm mit ihrem Anzugträger-Freund. Mert versuchte sie zu erreichen, ihr zu sagen, dass er sie liebte. Dass er sich sicher war, überhaupt nur sie lieben zu können, und dass er sich selbst nur leiden konnte, wenn sie bei ihm war. Aber er kam ihr nicht näher, so sehr er es auch versuchte. Er folgte ihr in einer festgelegten Distanz, zu weit entfernt, um nach ihr zu rufen, nah genug, um sie im Auge zu behalten. Dann rückten die Albaner an, sprangen hinter Schildern hervor, strömten aus Kaufhauseingängen, durchlöcherten ihn mit Maschinengewehrsalven, und erst in diesem Moment drehte Nadja sich zu ihm um, sah ihn auf dem Boden liegen und lief zu ihm hin. Aber da konnte er schon nicht mehr sprechen.
Am nächsten Morgen beschloss Mert, lieber zu sterben, als das Wichtigste ungesagt zu lassen. Er stand auf, duschte, ging zum Friseur zwei Häuser weiter, ließ sich rasieren und die Haare abschneiden. Dann fuhr er zu Nadja.
Hier saß er und sagte drei Worte, die er noch nie gesagt hatte: »Ich habe Angst.«
Er sagte diese Worte nur an diesem einen Nachmittag in Nadjas Küche, Jahre nachdem sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Die Züge um Nadjas Mund waren härter geworden, eine Ader auf ihrer Stirn trat hervor. Mert hatte Falten um die Augen bekommen, die in feine Narben über gingen, und einen Bauch, der sich durch sein T-Shirt drückte. Aber er war noch ein Brocken aus Kraft. Er saß in ihrer Küche auf dem Stuhl, auf dem er immer gesessen hatte. Er sah krank aus mit seinen geschorenen Haaren, unter denen die Kopfhaut weiß schimmerte. Er war außer Form und angeschlagen, doch er war unverkennbar ihr Mert. Ein schiefes Lächeln teilte sein Gesicht, das mittlerweile aussah, als habe Gott es in Lehm getreten.
Vier Jahre hatte sie ihn gegen jede Vernunft geliebt und fast so lange gebraucht, sich davon zu erholen. Sie war glücklich, ihn wiederzusehen. Zuerst dachte sie, es fühle sich an, als sei er nach Hause gekommen. Dann bemerkte sie, dass sie selbst sich so fühlte, als sei sie endlich wieder dort, wo sie hingehörte.
»Ich habe Angst.«
Tränen schossen Nadja in die Augenwinkel.
»Du hast doch nie Angst. Du hast doch vor nichts und niemandem Angst.«
»Da hab ich gelogen.«
Er atmete tief ein, versuchte den Knoten in seiner Brust zu lösen, Kraft zu sammeln für eine Beichte.
»Ich habe sogar Angst vor dir. Weil du mir über bist. Wenn wir Streit hatten, bin ich länger auf der Arbeit geblieben, weil ich wollte, dass du schon schläfst, wenn ich nach Hause kam. Vor Felix hatte ich auch Angst. Ich bin nur deshalb auf meine Gegner losgegangen, damit die Angst weggeht. Damit ich es hinter mir habe. Und jetzt habe ich Angst, dass ich nie wieder kämpfen kann. Ich habe Angst, dass ich alles falsch gemacht habe und es nicht mal schnalle. Ich habe sogar Angst vor mir selbst. Dass ich Scheiße baue. Ich bin der schlimmste Schisser, der da draußen rumläuft.«
Nadja warf ihre Zigarette auf die Straße, stieg von der Fensterbank herunter, setzte sich Mert gegenüber und legte ihre Hand auf seine. Er zog sie zurück, damit Nadja ihn nicht auf die Schwellung ansprechen konnte. Eine Nachfrage hätte er nicht mit einer Lüge abwiegeln können.
»Und deswegen bist du hergekommen, um mir das zu sagen?«
»Ja.«
»Dass du Angst hast?«
»Ja, damit du das gehört hast, falls irgendwas passiert.«
»Was sollte denn passieren?«
»Nichts, ich weiß es nicht. Ich wollte nur, dass du Bescheid weißt.« Mert konnte Nadja nicht von Stefan oder den Albanern erzählen, ohne zu riskieren, dass sie ihn wieder vor die Tür setzte. Das machte ihm von allem am meisten Angst.
»Ich wollte auch noch sagen, dass es mir nicht gut geht ohne dich. Auch wenn ich es verschissen habe. Es tut mir leid. Ich bin selbst schuld. Aber es geht mir nicht gut ohne dich.«
Mert blieb in dieser Nacht bei Nadja. Er blieb auch den nächsten Tag und die folgende Nacht. Dann ging er zurück in die
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