Schlag weiter, Herz
Pension. Nach einem weiteren Tag hielt er es nicht mehr aus und rief Nadja wieder an. Auch wenn er in der folgenden Zeit sein Zimmer in der Pension behielt und davon sprach, sich endlich eine eigene Wohnung zu suchen und ein ordentliches Leben anzufangen, waren sie ab diesem Zeitpunkt wieder ein Paar. Liebende mit einem Loch in der Mitte, das sie selbst geschlagen hatten. Sie hatten Zeit verschwendet, die sie nie wiederbekommen würden, und litten an einem Verlustschmerz, den sie nur mit Nähe lindern konnten. Mit der andauernden Versicherung, dass der andere da war. Sie klammerten sich aneinander, als würde einer von ihnen untergehen, wenn sie den Griff lockerten.
Sie suchten eine gemeinsame Wohnung und dachten sogar darüber nach, das Land zu verlassen, nach Amerika zu ziehen, oder zumindest in eine andere deutsche Stadt, wo sie niemand kannte. Wo sie die werden konnten, die sie sein wollten, ohne Erwartungen von außen. Keine Familie, keine Kollegen, keine Albaner. Aber diese Pläne blieben Träume und reduzierten sich am Ende auf Eimsbüttel, Altona und Rothenburgsort, einfach nur weg vom Kiez und dem Großneumarkt. Irgendwohin, wo nette Menschen sich im Supermarkt grüßen.
Mert tauchte nie wieder im Hans-Albers-Eck auf. Er rief Marco Wenz an, der den Laden mittlerweile übernommen hatte, und teilte ihm mit, dass er nicht mehr dort arbeiten würde. Er weigerte sich sogar, auf ein Abschiedsbier vorbeizukommen. Die Angst vor den Albanern war zu groß, dabei hätten sie ihn kaum wiedererkannt, so wie er jetzt aussah. Mert war so kurz davor, ein glücklicher Mensch zu werden, dass er nichts riskieren wollte.
Er meldete sich nicht bei seinen Eltern, um zu fragen, ob die Polizei ihn gesucht hatte. Er rief Constanze im Dienst an, um zu erfahren, wie es Stefan ergangen war. Sie erzählte, dass er direkt in die Untersuchungshaft entlassen worden war und die Polizei mehrmals nach Mert gefragt hatte. Danach rief er Constanze nie wieder an.
Seine neue Welt waren Nadja und die Wohnung, die sie in Altona fanden. Drei Zimmer mit Dachschrägen, ein kleiner Balkon. Nadja ließ ihre Jugendmöbel zurück, nur den Küchentisch, die Stühle und das Kästchen voller Erinnerungen nahm sie mit. Von ihren Ersparnissen und Merts ergaunertem Geld kauften sie sich eine neue Einrichtung. Nadja hatte Geschmack, und Mert ermunterte sie, Geld auszugeben, wenn ihm etwas besonders gut gefiel. Bald sah die Wohnung so aus, wie Mert und Nadja auch ihre Beziehung empfanden: schön, etwas dunkel, verwinkelt, aber warm. Nadja und Mert unternahmen wenig, räumten abends herum, probierten verschiedene Standorte für die Möbel aus. Sie stellten alles um, ließen es ein paar Tage so, dann ging es von vorne los. Nach ein paar Monaten hatten sie die perfekte Konstellation gefunden.
Mert hätte glücklich sein müssen, und häufig war er das auch. Aber jedes Mal, wenn ein Boxkampf im Fernsehen übertragen wurde, sah Mert eine große Sanduhr, auf der sein Name stand und durch die seine Lebenszeit rieselte. Er hatte keine Idee, was er sonst mit sich anfangen sollte.
Nadja schleppte Mert zu Professor Zorn, der sich gut an ihn erinnerte.
»Wieso machen Sie das eigentlich?«
»Was? Boxen?«
»Sich absichtlich verletzen.«
»Ich versuche nicht, mich zu verletzen. Machen Sie Sport?«
»Ich habe Tennis gespielt.«
»Beim Tennis will man den Ball ja auch nicht ins Netz hauen, oder? Es passiert halt.«
»Mittlerweile müssen Sie aber doch wissen, dass das Kämpfen nicht ohne Folgen verläuft. Selbst wenn Sie gewinnen, tun Sie sich weh. Sie haben doch gewonnen, wenn ich mich richtig erinnere?«
»Wann?«
»Als das mit der Hand passiert ist.«
»Ja, ich habe gewonnen.« Mert spürte, wie Nadja bei der Erwähnung seines letzten Aufeinandertreffens mit Felix versteifte.
Seine Hand wurde operiert, ein Mittelhandknochen war falsch zusammengewachsen. Danach musste er monatelang Reha machen.
Er hasste es, Geschicklichkeitsübungen mit Gummibändern zu absolvieren. »Sanft«, mahnte der Physiotherapeut, wenn Mert es mit Kraft versuchte, »ganz sanft.« Das fiel Mert nicht leicht, nachdem er jahrelang gelernt hatte, sich erst richtig ins Zeug zu legen, wenn es schon wehtat.
Eines Tages kam Nadja von der Arbeit nach Hause und hatte eine Tüte von SportScheck dabei.
»Ich habe mich erkundigt«, sagte sie und holte eine Schachtel hervor, in der ein schwarzer Gummiball verpackt war. »Das benutzen Bergsteiger, um zu trainieren.« Sie fummelte den Ball aus der
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