Schlag weiter, Herz
man berührt und von denen man einen Teil in sich trägt, die man nicht mehr loswird, aber auch nicht mehr wiedersieht. Die man in der Zeit verliert, denkt Mert, oder in einer viel zu großen Welt.
Nadja vermisst er nicht. Sie fehlt ihm. Er spürt ihren skeptischen Blick, wenn ihr etwas missfällt. Sieht, wie sich ihre Miene aufhellt, in einem schönen Moment. Hört ihr explodierendes Lachen, wenn etwas Lustiges passiert. Manchmal fühlt es sich an, als laufe sie neben ihm her.
Mert fragt sich nicht zum ersten Mal, ob das der Grund ist, warum er hier in Thailand noch nie mit einem der Mädchen mitgegangen ist. Früher war er auch nicht zimperlich. Aber Nadja wäre dabei, und das erscheint ihm dann doch unpassend.
Nadja würde den kleinen Ali mögen. Der Hund hält einen Hühnerschenkelknochen zwischen seinen Pfoten und zermalmt ihn mit den Backenzähnen. Aber vielleicht auch nicht, sie haben nie über Hunde gesprochen. Je weiter ihre gemeinsame Zeit zurückliegt, desto unsicherer wird Mert, was er noch von Nadja weiß. Jeden Tag scheint sie ihm ein bisschen mehr zu entgleiten. Sie wird zu seiner Vorstellung, wie seine Gegner, wenn er sich vorbereitet. Das spürt Mert schon daran, dass Nadja ihn in seinen Gedanken nicht mehr überraschen kann, was sie früher regelmäßig geschafft hat. Zurück bleibt der Teil von Mert, der sich so anfühlt wie sie. Eine Prothese. Eine Nadja-Prothese. Die Prothese hilft, er fühlt sich nicht allein. Nur an Tagen wie heute, wenn Mert seinen Verlust besonders deutlich empfindet, macht die Prothese alles noch schlimmer. Dann wäre er Nadja gerne vollständig los, aus seinem Kopf, aus seiner Vergangenheit.
Ali hat zu Ende gefressen. Er schlingt, als gäbe es kein Morgen, das wird er sich in diesem Hundeleben nicht mehr abgewöhnen. Sie spazieren zurück. Die Frau des Vermieters putzt die Wohnung. Sie sieht den Hund mit dreckigen Pfoten und beginnt zu zetern. Mert jagt Ali runter auf die Straße und lächelt die Alte an, ein echtes Lächeln, dafür muss er nur ihre Zehen betrachten. Sie wirft eine Hand in einer fliegenden Geste über den Kopf, lächelt zurück und schrubbt weiter.
Mert sammelt die Fotos ein, die auf seinem Esstisch sortiert liegen, und räumt sie in das Kästchen. Das Bild, das ihn mit Nadja auf dem Hamburger Dom zeigt, legt er auf den Deckel. Dafür wird er sich einen Rahmen besorgen, einen Platz in der Wohnung finden. Mit diesem Bild will er anfangen. Was nützen die schönen Erinnerungen, wenn er sie wegsperrt.
36
Geteiltes Glück verdoppelt sich, geteilte Angst wird halb so schlimm. Solange Mert Nadja um sich hatte, fühlte er sich sicher. Er genoss die Tage, die Stunden, so als ahnte er schon, dass nichts, was ihn so glücklich machte, von Dauer sein würde. Auch als sich die vielen kurzen Glückseinheiten zu Monaten summierten, blieb Mert darauf gefasst, dass morgen alles vorbei sein konnte. Im Holmes Place arbeitete er bald dreißig Stunden in der Woche. Dazu gab er Einzelstunden für Geschäftsmänner, die das Gefühl hatten, viel für ihr Geld zu bekommen, wenn sie sich von einem Haudegen wie ihm quälen ließen. Er trainierte auch eine Gruppe von drei jungen Frauen im Boxen, alle so fit, dass Mert sich fragte, warum sie es überhaupt lernen wollten, wenn sie nicht vorhatten, sich zu schlagen. Auch wenn er die Begeisterung der Frauen bemerkte, beließ er es beim Training. Nichts sollte das Zusammensein mit Nadja gefährden. Mert verdiente ordentlich, für besondere Anschaffungen hatte er seine Reserven aus der Zeit mit Stefan.
An einem Nachmittag im August erzählten sich zwei Kollegen in der Umkleide von ihren Urlaubsreisen. Einer hatte den Sommer als Animateur in einem Robinson-Club verbracht, der andere war mit seiner Frau nach Costa Rica gereist. Mert hatte noch nie Urlaub gemacht. Er wusste nicht einmal, wie das ging. Nadja hatte fünfundzwanzig Urlaubstage im Jahr, die sie nutzte, um ihre Eltern zu besuchen oder eine Woche nicht zur Arbeit zu gehen, mit Mert zu Hause zu bleiben, auszuschlafen, noch mehr zu lesen. Einmal waren sie an die Nordsee gefahren, ausgerechnet im Oktober. Mert dachte, Urlaub sei etwas, das Erwachsene machten, die ein normales Leben führten. Also fragte er Nadja, ob sie mit ihm verreisen wolle.
»Wohin willst du denn?«, fragte sie zurück.
»Keine Ahnung.«
»In die Türkei?«
»Was soll ich denn da?«
»Verwandte besuchen?«
»Die kenne ich gar nicht. Außerdem spreche ich kein Türkisch.«
»Das musst du doch auch
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