Schlag weiter, Herz
nicht. Interessiert es dich denn gar nicht, wo du herkommst?«
»Ich komme aus Bahrenfeld. In der Türkei sprechen mich alle auf Türkisch an, weil ich so aussehe, das nervt mich.«
»Wo möchtest du dann hin?«
»Amerika?«
»Das ist ganz schön weit. Und teuer.«
Sie entschieden sich, so lange in Richtung Süden zu fahren, bis sie Meer und Sonne fanden. Sie nahmen sich frei, setzten sich an einem Samstag frühmorgens in den Zug und kamen bis München. Ein fremder Kontinent. Die Menschen sahen so aus wie sie, waren aber anders, in Kleinigkeiten, die sie schwer entschlüsseln konnten. »Die Frauen haben komische Frisuren«, befand Nadja, nachdem sie eine Einkaufsstraße in der Nähe des Bahnhofs hoch und runter spaziert waren. Mert mochte den Dialekt nicht, er verstand kaum, was die Menschen sagten. Dabei hörte es sich so an, als müsste er es verstehen. So weit weg von zu Hause hatte er sich noch nie gefühlt. Amerika schien mit einem Mal unerreichbar fern zu sein.
Außer zu Wettkämpfen war Mert noch nie aus Hamburg rausgekommen. Wenn er unterwegs gewesen war, hatte er selten mehr gesehen als eine Mehrzweckhalle voller Menschen, denen Alternativen fehlten. Hier wirkten alle reich, gesund und zufrieden.
Nadja und Mert gingen zurück zum Bahnhof, erkundigten sich nach einem Nachtzug und fuhren weiter bis nach Ancona. Der Zug, den sie ab Mailand nahmen, endete in einem winzigen Ort an der Küste. Dort blieben sie.
Sie fanden eine Ferienwohnung, kauften Lebensmittel, verbrachten die Tage am Strand und die Abende auf ihrem Balkon, von dem aus sie ein Stück des Meeres sahen.
»Das Meer macht dumm«, sagte Nadja. »Leute, die am Meer leben, werden ein bisschen beschränkt, weil sie so zufrieden sind. Surfer, Fischer, Tauchlehrer, alles keine Leuchten.«
»Warum magst du das Meer dann?«, fragte Mert.
»Weil es mir klarmacht, wie unbedeutend alles an Land ist. Es ist so groß. Riesig und schon immer da. Wenn ich aufs Meer sehe, dann ist alles andere egal. Was an Land passiert, juckt das Meer überhaupt nicht. Es ist nur groß, schön und gefährlich. Alle haben Respekt vor dem Meer.«
Nadja erzählte ihm, dass sich weit unten im Meer riesige Landschaften auftürmten. Gebirge und Schluchten, größer und mächtiger als an Land. Es gab Lebewesen, die noch kein Mensch je gesehen hatte, die so weit unter dem Meeresspiegel lebten, dass sie unerreichbarer waren als der Mond.
Nadja rauchte, sie tranken Wein und aßen Kleinigkeiten, die sie in einem Laden kauften, den Nadja besonders mochte, weil er so aussah, als habe er der Zeit widerstanden, den Neubauten, den Hotels und den Spielhallen, die ihn von allen Seiten bedrängten. Sie hörten Musik oder redeten, über alles und nichts. Ancona war nur vierzehn Kilometer entfernt, aber sie schafften es in der ganzen Zeit kein einziges Mal bis dorthin. Sie saßen nur auf dem Balkon.
»Fragst du dich manchmal, wie alt unser Kind wäre?«, wollte Mert eines Abends wissen.
»Elf. Aber ich frage mich nicht andauernd. Ich weiß es nur.«
»Elf. Wenn es ein Junge geworden wäre, könnte er schon seine ersten Wettbewerbe boxen.«
»Wenn es ein Mädchen wäre, müsstest du die Jungs von ihr fernhalten.«
»Wie würde sie heißen?«
»Weiß ich nicht«, sagte Nadja, »ein Junge würde Ali heißen.«
»Ali? Bitte nicht Ali. Ich liebe den kleinen Kerl, aber das ist doch kein Name für einen Deutschen.«
»Der muss Ali heißen, ist doch wohl klar«, sagte Nadja, und Mert hatte kein Argument dagegen. »Wir konnten es da mals nicht wissen. Es war zu früh, wir waren zu jung«, sagte Nadja, weil sie das Gefühl hatte, ihn trösten zu müssen.
»Ich wusste es.«
»Was wusstest du?«
»Dass ich mit dir zusammen sein möchte.«
»So hast du dich nicht verhalten.«
Es geschah häufig in letzter Zeit, dass Mert etwas Nettes sagte, in Nadja aber Bitterkeit hochkroch, die sie erst auf der Zunge spürte, nachdem die Bemerkung ihren Mund bereits verlassen hatte. Sie bereute es in dem Moment, in dem sie sich sprechen hörte, doch sie konnte nicht anders. Manchmal hielt sie das für eine Vorsichtsmaßnahme, um sich vor dem zu schützen, was bei einem Mann wie Mert noch kommen konnte. Häufiger aber hatte Nadja den Verdacht, dass sie ihrem Glück so wenig vertraute, dass sie es lieber selbst beschädigte.
Sie hatten wenig über die Zeit ihrer Trennung gesprochen. Nadja wollte nicht wissen, was Mert getrieben hatte, als er mit Stefan zusammenlebte. Und Mert hatte festgestellt, dass er
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