Schlag weiter, Herz
zu seinen Zeiten als Hamburger Meister. Aber tatsächlich waren die Jüngeren nicht außer Atem, weil er mehr Kondition hatte, sondern weil er sie rennen ließ. Den Eindruck von Geschwindigkeit erzeugte Mert dadurch, dass er ihre Aktionen ausrechnen und reagieren konnte, noch bevor sie schlugen. So lernte Mert das Entscheidende am Boxen erst, als er seine alten Stärken verloren hatte.
Wenn er einen jungen Kämpfer vor sich hertrieb, musste Mert daran denken, wie er boxen würde, wenn er diese Feinheiten mit der Kraft und Kondition kombinieren könnte, die ihm vor zehn Jahren noch zur Verfügung gestanden hatten. Mert trauerte um diesen Verlust wie eine Frau, die erst bemerkt, wie schön sie gewesen ist, wenn die Männer aufhören, ihr hinterherzuschauen.
Aus Theo, den Mert noch als Anfänger vom BC Einigkeit kannte, war ein vielversprechender Halbschwergewichtler geworden, der Felix’ Platz an der Sonnenseite von Gersch eingenommen hatte. Gersch bat Mert, ein paar Runden Sparring mit Theo zu machen, zur Wettkampfvorbereitung für die norddeutsche Meisterschaft. Theo erinnerte sich gut an die Abreibungen, die er von Mert bekommen hatte, aber auch an die Tipps, die er ihm gegeben hatte. Theo brauchte ein paar Sekunden, bis er realisierte, dass Mert älter geworden war, nicht mehr ganz so schnell und dynamisch. Theo erhöhte die Frequenz, schlug viel, er kombinierte, er traf. Mert blutete aus der Nase.
Die Trainierenden in der Halle stellten die Arbeit ein und sahen zu, Gersch ermahnte sie nicht. In der Rundenpause ging Mert in die Ecke, in der Ali stand. Ali wischte ihm das Blut unter der Nase mit dem Ärmel seines Sweatshirts weg.
»Schnell, der Kleine«, sagte Ali.
»Ja«, sagte Mert und schnappte nach Luft, »aber ich glaub, der kann schon nicht mehr.« Ali lachte. In der anderen Ringecke schaute Theo leicht irritiert.
»Zeit!«, rief Gersch, um die nächste Runde zu eröffnen. Theo machte sich daran, seinen alten Angstgegner zu überwinden.
Theo versuchte nicht nur schneller und besser zu sein als Mert, sondern überlegen. Mit einer Vielzahl von Schlägen boxte er gegen Mert an, er kombinierte, brachte Mert in Bedrängnis. Aber Mert schlug zurück – und wenn er schlug, traf er genau und hart. Theo überdrehte, schlug immer mehr und verlor dabei an Genauigkeit, sodass er nun zusehends seine Kraft ins Leere verschwendete. Theo atmete schwer, seine Schläge wurden langsamer und unkontrollierter. Je härter er schlug, umso härter schlug Mert zurück, bis Gersch schließlich »Stopp!« schrie. Die beiden unterbrachen ihre Aktion.
»Was soll das werden?«, blaffte Gersch Theo an.
Theo schnaufte und entschuldigte sich bei Mert mit einer ausgestreckten Faust, die Mert abklopfte. Aber Theo konnte sich nicht mehr beruhigen. Er stürmte weiter auf Mert zu, der ihn ein ums andere Mal mit harten Treffern abfing.
»Stopp«, schrie Gersch wieder. »Duschen, umziehen.«
Theo sah mitleiderregend aus, Schrammen im ganzen Gesicht, Blut über sein T-Shirt verteilt. Mert umarmte ihn mit heraushängender Zunge und klopfte ihm sanft den Handschuh an den Hinterkopf. »Merk dir den Tag«, sagte Mert, »so gut siehst du mich nie wieder.« Es war ein schwacher Trost für Theo, der daraufhin in seine Ecke ging, wo Gersch ihm den Kopfschutz abnahm, ihm dabei aber nicht in die Augen sah.
»Ganz ordentlich für einen alten Sack«, raunte Ali, als er Mert die Ringseile auseinanderhielt.
Im Holmes Place waren Ali und Mert beliebte Trainer. Mert unterrichtete nicht nur Fitness-Boxen, sondern auch Kurse wie »Indoor Cycling«, »Crunch-Compact« und »Bodypump«, wobei es sich um Einheiten auf dem Trimmrad, Bauchmuskeltraining oder Gewichtheben handelte. Ali würzte seine Stunden mit Scherzen und Sprüchen. Wenn er zum Ende einer »Bodypump«-Stunde in gequälte Gesichter blickte, forderte er die Gruppe auf zu lächeln. »Ihr seid doch zum Spaß hier!« Wenn Kursteilnehmern bei einer Sitzhocke die Beine zitterten, erklärte Ali: »Ich reiß mir die Sitze aus dem Auto und fahr so in den Skiurlaub bis nach Österreich.« Wenn ein Mann drohte, über einem Liegestütz zusammenzubrechen, legte Ali sich mit dem Kopf unter dessen Gesicht und fragte: »Willst du knutschen?«
Mert galt als stiller Schleifer. Er sah aus, als habe man ihn aus Stein gehauen. Er machte keine Witze, hob aber stets am meisten Gewichte, machte mehr Bauchaufzüge als die eifrigsten Sportler, und beim Radfahren zeichneten sich dicke Muskelpakete unter seiner Hose
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