Schlag weiter, Herz
ab. Mert wirkte so, als würde ihm das alles nichts ausmachen, und unter den regelmäßigen Kursteilnehmern erwachte der Ehrgeiz, ihn wenigstens ein einziges Mal zu schlagen. Es gelang ihnen nie. Oft trafen Ali und Mert sich ein oder zwei Stunden vor ihrem Dienst, feuerten sich gegenseitig an den Gewichten an, redeten, machten Pläne und tranken einen Vitamindrink, bevor sie an die Arbeit gingen.
Ali, drei Jahre jünger als Mert, wollte kurz vor seinem fünfunddreißigsten Geburtstag noch einmal um die Hamburger Meisterschaft boxen, danach norddeutscher, vielleicht ein letztes Mal deutscher Meister im Fliegengewicht werden. Als er Mert an einer Langhantel absicherte, fragte er: »Willst du meine Ecke machen?«
Mert wollte. Er fühlte sich geehrt, dass Ali, der einer der besten Boxer war, die Mert kannte, Wert auf seine Betreuung legte. Dieses Vertrauen besiegelte ihre Freundschaft endgültig. Und es gab Mert die Gelegenheit, mal wieder die Aufregung zu spüren, die einen Wettkampf begleitet, ganz nah dran zu sein, wenn er schon nicht im Ring stehen konnte. Ihm wurde erst bewusst, wie sehr ihm dieses Gefühl fehlte, als er sich mit Ali ins Vorbereitungstraining hineinsteigerte, als müsste er selbst kämpfen.
Sie trafen sich an vier Tagen in der Woche morgens zum Laufen, anschließend gingen sie zusammen zum BC Einigkeit. Kalle überließ ihnen einen Schlüssel für die Halle, damit sie zu zweit ihre Vormittagseinheit absolvieren konnten.
Nachmittags trafen sie sich, wenn Kalle die Kinder und Jugendlichen trainierte, und verabschiedeten sich, wenn die Erwachsenen kamen, um pünktlich zu ihren Schichten im Fitnesscenter zu kommen.
Montags und mittwochs trainierten sie abends beim Verband, wo Ali bessere Sparringspartner fand. Aber meistens schlug er sich mit Mert, bei dem er sich nicht zurückhalten musste. An Mert konnte Ali sich wie an einem lebenden Sandsack abarbeiten. Selbst wenn Ali ihn gut traf, wankte Mert nicht. Er zeigte höchstens an, dass ein Schlag saß.
An vier Abenden die Woche kochte Nadja, an drei Abenden übernahm Alis Mutter die Verpflegung. Gekocht wurde nach einem Ernährungsplan, den Ali und Mert nach den Erkenntnissen verfeinerten, die sie im Holmes Place gewonnen hatten. Alis Mutter kümmerte sich um scharfe Gerichte. Nadja schnitt und raspelte Ingwer an so gut wie alles, was sie zubereitete.
Es gab scharfes Huhn und Huhn mit Ingwer, scharfe Pute und Pute mit Ingwer, Spinat mit Ingwer, Spinat mit Kreuzkümmel und Chili. Es gab Ingwertee und Ingwerwasser, rote Linsen mit Chili, Reis mit Chili. Kaffee ohne Milch und Zucker, aber mit Zimt. Als Nachspeise Zimt auf Bananen.
Alis Unterhautfett schmolz. Nach ein paar Wochen zeichneten sich die Muskeln scharf ab. Beim Wiegen war er vierhundert Gramm unter dem Limit für das Fliegengewicht. Mert stand neben ihm, die Augen tief in den Höhlen, die Wangen eingefallen. Er hätte ohne Probleme im Halbschwergewicht antreten können.
Mert war in Alis Ecke, als dieser sich bei den Hamburger Meisterschaften in zwei Ausscheidungskämpfen und im Finale durchsetzte. Mert begleitete Ali auch zur norddeutschen Meisterschaft, wo Ali in der Finalrunde knapp ausgepunktet wurde. Nach dem Kampf legte Mert ihm in der Kabine ein Handtuch über den Kopf, während sich die nächsten Kämpfer vorbereiteten. Es musste niemand sehen, dass Ali Tränen über die Wangen liefen.
Sie fuhren von Schwerin mit dem Zug zurück, noch bevor der Bus die restlichen Hamburger nach Hause brachte. Ali war es leid, immer als Erster zu boxen und dann stundenlang warten zu müssen. Sie verdienten gutes Geld und konnten sich ein Zugticket leisten. Am Bahnhof Altona nahmen sie ein Taxi und fuhren zu Mert. Nadja umarmte Ali lange.
»Nun hör mal auf«, sagte Ali, »ist ja niemand gestorben.«
Nadja machte Pfannkuchen, es gab keinen Grund mehr, auf die Ernährung zu achten.
»Sei nur froh, dass du damals nicht gewusst hast, dass es dein letzter Kampf war«, sagte Ali zu Mert. »Außerdem hast du den Ring als Sieger verlassen.«
Nadja stand auf, um den Tisch abzuräumen. Mert war sich nicht sicher, ob sie schnell Ordnung machen oder das Thema vermeiden wollte.
»Wie geht es Felix eigentlich?«, fragte Ali. Nadja antwortete nicht, spülte Geschirr und wirkte so, als habe sie nichts gehört. Mert zuckte die Achseln. Nadja besuchte ihren Bruder, seine Frau und die Kinder weiterhin an Sonntagen, aber Mert blieb zu Hause oder ging arbeiten. Nadja erzählte hinterher nur knapp, wie sich Jörg
Weitere Kostenlose Bücher