Schlagmann
meiner Parallelklasse auf dem Gymnasium hatte es einmal ein extrem dünnes Mädchen namens Julia gegeben, das in eine Klinik geschickt wurde und nach einem halben Jahr dickgefüttert wiederkam.
Ich selbst esse zu viel, heute sieht man es mir an. Aus freien Stücken eine Schlankheitskur machen – dazu hatte ich noch nie die Disziplin. Jedes Frühjahr verbringe ich vier Wochen in einer Klinik am Bodensee, wo auf hohem Niveau nichts gegessen wird. Ich verliere dann fünf Kilo, die ich während des restlichen Jahres wieder zulege. Das ist schon meine ganze Essstörung.
Trotz allem trennten wir uns nicht, wir trafen uns nur immer seltener. Arne wahrscheinlich, weil er nicht auf die Idee kam, dass wir jemals ein Paar gewesen waren. Und ich? Ich weiß nichtmehr, ob ich immer noch glaubte, ich könnte ihn wachküssen. Meine Arroganz von damals tut mir heute weh. Warum habe ich nicht viel früher etwas bemerkt? Warum habe ich nicht dafür gesorgt, dass Arne geholfen wird? Warum habe ich ihm nicht selbst geholfen?
Als ich ihn kennenlernte, schien sein Körper unverwundbar. Ich war so daran gewöhnt, dass er ein großer und schwerer Mann war, dass ich zu Beginn kaum wahrnahm, wie er weniger wurde. Außerdem hatte Arne ja sein Input-Output-Computerprogramm, mit dem er sein Gewicht akribisch in der Balance zu halten schien. Was ich lange nicht begriff, war, dass dieses Programm mehr als eine Variable enthielt und damit verstellbar war. Dass Arne nach Belieben den Input verringern und den Output erhöhen konnte.
Ich sah Arnes Absturz trotz aller Anzeichen nicht kommen. Wie in dem Lied vom Mond, der nur halb zu sehen ist, obgleich er doch rund und schön ist. Nur dass in dem Lied vom Mond das Licht hinter der Dunkelheit verborgen liegt. Bei Arne war es umgekehrt. Die Dunkelheit verbarg sich hinter dem Licht.
Erst ein paar Wochen nach meinem letzten Besuch sah ich ihn wieder. Er hatte mich immer noch nicht freigesprochen von meiner Schuld, und ich wollte, dass er das endlich tat. Also rief ich eines Nachmittags bei ihm an, und er hob ab. Ich gab mir große Mühe, einen normalen Ton anzuschlagen, aber im nachhinein merke ich, wie naiv und unwissend ich gewesen sein muss. Ich schlug ihm vor, mit ein paar Einkäufen vorbeizukommen und für ihn zu kochen. Für jemand wie ihn muss sich das angefühlt haben wie eine offene Attacke. Wie konnte ich nur so blöd sein. Aber so war ich nun mal: Ich meinte es gut und war gleichzeitig ahnungslos.
»Etwas ganz Einfaches«, sagte ich. »Nudeln mit Soße – und Salat.«
Ich merkte sofort, dass er nicht wollte und kämpfte wieder einmal gegen das Gefühl an, zurückgestoßen zu werden.
»Was ist?«, fragte ich. »Du kannst ruhig ehrlich sein. Hast du eine neue Freundin? Willst du mich deswegen nicht mehr sehen?«
Er sagte nein. Er habe keine andere. Ich hörte nur noch seinen schnaubenden Atem. Er schwieg so lange, dass ich die Geduld verlor und versuchte, das Gespräch mit ein paar Floskeln zu beenden.
»Also dann …«
Aber das schien er nicht zu wollen.
»Es hat nichts mit dir zu tun«, sagte er. »Es ist wegen der Soße.«
»Wegen der Soße?«
»Ich hasse Soße.«
»Wieso?«
»Ich kann nicht genau feststellen, was darin ist.«
»Du willst also nicht mit mir essen?«
»Nein, ich habe schon gegessen.« Dieser Satz kam mir bekannt vor.
Ich verwarf also die Idee, für ihn zu kochen, und fragte, ob wir uns in einem Café treffen sollten, in dem wir schon früher ein paar Mal zusammen gewesen waren. Er sagte zu.
Es war eines dieser kargen Studentencafés, die cool wirken wollten, mit einer an den Oberarmen tätowierten Kellnerin in Lederhose und einem ärmellosen Hemd. Merkwürdig: Ich habe keine Ahnung mehr, was für Kleider ich selbst an jenem Abend anhatte. Offenbar fand ich das nicht mehr so wichtig.
Ich saß bereits auf einem Metallstuhl an einem der blechernen Tische, als Arne hereinkam. Hochgewachsen, blond, die langen Haare im Nacken zusammengebunden. Ich wartete darauf, dass die Leute im Lokal ihn anstarrten, so wie ich es gewohntwar. Aber etwas war anders. Er war nicht nur dünner als früher. Es fehlte ihm wohl der Schimmer des erfolgreichen Spitzensportlers, diese Mischung aus gesunder Bräune und der Aura des Erfolgs. Ich war enttäuscht, weil er so schnell aus dem Olymp zu den Sterblichen hinabgesunken war. Sein Gesicht war blass, und seine Augen waren leicht gerötet.
Er zog den Kopf zwischen die Schultern, stakste zu mir herüber und ließ sich auf den Stuhl
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