Schlagmann
Trainingsgerät.«
Er erzählte, dass er sein Studium aufgegeben und eine feste Arbeit bei der Computerfirma angenommen hatte, für die er früher nur gejobbt hatte. Er müsse stundenlang vor dem Computersitzen, aber das Gute daran sei, dass er zu Hause arbeiten könne.
Viele Jahre später musste ich an diesen Stuhl wieder denken. Ich las einen Zeitungsbericht über die Foltermethoden der Amerikaner in Guantanamo. Über »stress positions«, extreme Körperhaltungen, in die sie ihre Opfer zwingen. Es waren Zeichnungen dabei, wie sie mit auf dem Rücken gefesselten Händen zusammengekauert auf Zehenspitzen stehen mussten. Ich will mir nicht vorstellen, was die Menschen in diesen endlosen Stunden erleiden, was mit ihren Körpern und ihren Seelen passiert. Und die Vorstellung, dass Leute es fertigbringen, einem ihrer Mitmenschen so etwas anzutun. Als ich die Zeichnungen sah, wurde mir klar, dass auch Arne auf seinem schräg gestellten Bürosessel den ganzen Tag in einer »stress position« verbracht hatte. Selbst seine ausgeprägten Bauchmuskeln müssen irgendwann unter der Anspannung protestiert und geschmerzt haben. Wollte er mit Hilfe der permanenten Muskelspannung nur zusätzliche Kalorien verbrennen? Die Opfer von Guantanamo haben wenigstens jemanden, den sie für ihre Pein verantwortlich machen können. Einen Sadisten außerhalb ihrer selbst, den sie hassen können. Arnes Folterknecht hingegen war er selbst.
ALI,
Zusammenfassung einer Tonbandaufzeichnung, Dienstag, 21. Oktober 2008
Wie viel Verantwortungsgefühl, wie viel Zeit und Kraft hätte ich für ihn aufbringen müssen? In mir bleibt eine Leerstelle. Der Verdacht, etwas versäumt zu haben. Und das Bewusstsein, dass ich nie eine Chance hatte, das Richtige zu tun.
Nachdem ich meinen Abschied vom Leistungssport genommen hatte, ging der Ernst des Lebens los. Ich musste mir eine Stelle für mein Praktisches Jahr suchen und hatte Glück, dass ich hier am Kreiskrankenhaus unterkam. Ein Jahr später legte mir Katja ein gestricktes Babysöckchen auf den Frühstücksteller. Sie war schwanger. Wir haben im folgenden Winter geheiratet, sie bereits mit einem sichtbaren Bauch, und im Frühjahr kam unser Junge zur Welt – ein großartiger Kerl. Er ist heute, mit 17, einen Zentimeter größer als ich, spielt Basketball und hat es schon bis in die deutsche Junioren-Auswahl gebracht. In zwei Jahren wird er sein Abitur machen. Wenn ich ihn spielen sehe, die lässigen Bewegungen, mit denen er im Laufen den Ball vom Boden abprallen lässt, und den klaren Blick, dann wächst in mir der Glaube an den menschlichen Fortschritt. Der Kleine ist ein viel talentierterer Sportler als ich, und das in einer Disziplin, in der er einmal viel Geld verdienen kann. Anders als wir auf der Galeere. Die Amerikaner haben ihn schon angesprochen. Vielleicht holen sie ihn später einmal in ihre Profiliga. Dann verdient er Millionen.
Mein Leben veränderte sich radikal – es füllte sich mit neuen Menschen und Aufgaben. Es kam der Tag, an dem ich keine einzige Sekunde mehr an Arne dachte. Dafür träumte ich manchmal von ihm. Ich sah ihn davonrennen, geräuschlos und in gespenstischerSchnelligkeit. Seine Beine waren noch länger als in Wirklichkeit und seine sportlich angewinkelten Arme auch. Wie eine scharfe Klinge schnitt er durch die Atmosphäre. Wusch! Ich sah ihn davonrennen und wusste, so schnell wie er würde ich nicht laufen können. Schlimmer noch, ich spürte, dass ich überhaupt nicht mehr von der Stelle kam, meine Füße klebten am Boden fest, so wie in den Träumen meiner Kindheit.
Ich saß oft nach dem Dienst zu Hause am Schreibtisch, kämpfte gegen die lähmende Erschöpfung, musste aber noch unzählige Arztberichte schreiben und gleichzeitig ein Auge auf den Kleinen haben, weil Katja im Krankenhaus als Nachtschwester arbeitete. Wir wohnten mit Unterstützung meiner Eltern in einer Dreizimmerwohnung, hielten sie mühsam in Schuss, und meine Frau und ich begegneten uns kaum noch. Das heißt, doch: Zwei Jahre später wurde unser Mädchen geboren.
Ganz selten verabredete ich mich mit einem der alten Sportkameraden zum Laufen oder zum Krafttraining. Als unser Junge noch ein Säugling war, packten wir ihn einmal in den Wagen, fuhren zu einer Ruderregatta ganz in der Nähe, präsentierten den Jungen seinen staunenden Bewunderern, und Katja staunte auch – darüber, wie viele Leute ich kannte, von denen sie bisher nichts gewusst hatte. Sie fassten in den Kinderwagen und kniffen den
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