Schlamm, Schweiß und Tränen
Zeitfenster jedoch verpasst oder Pech mit dem
Wetter hat, lässt man dort oben sein Leben.
Denn es sind vor allem die starken Höhenwinde innerhalb der Jetstreams, die - in Kombination mit der trostlosen Eiswüste, den zahllosen Gletscherspalten, den täglich abgehenden Lawinen und Hunderten von Metern extrem ausgesetzter Felsflanken - entscheidend
dazu beitragen, dass die erschreckende Anzahl der tödlich verunglückten Bergsteiger am Everest kontinuierlich weiter steigt.
Zum Zeitpunkt unserer Expedition sahen die statistischen Daten
zur Gipfelbesteigung so aus, dass jeder sechste Bergsteiger, der den
Gipfel erreicht hatte, beim Abstieg ums Leben kam.
Jeder Sechste. Das ist ja genauso wie russisches Roulette; in einer
der sechs Kammern des Revolvers steckt die Patrone, man weiß nur
nicht in welcher.
Ein Vergleich, der mir überhaupt nicht gefiel.
Am 7. April sollte unsere Everest-Expedition endlich losgehen. Doch da wir bis dahin noch eine ganze Woche Zeit hatten,
wollten Mick und ich zusammen mit Nima - einem unserer Sherpas
- diese Zeit nutzen und vorab schon mal den ersten Abschnitt unserer
Route erkunden.
Die übrigen Teammitglieder mussten derweil noch im Basislager
bleiben, um ihrem Körper ausreichend Zeit zu geben, sich an diese
Höhenstufe zu akklimatisieren, bevor sie es wagen konnten, weiter
aufzusteigen.
Wir drei hockten am unteren Ende des Khumbu-Eisbruchs und
waren damit beschäftigt, unsere Steigeisen anzulegen - vor uns lag
diese extrem zerklüftete und steil ansteigende Eislandschaft mit ihren
bizarren Eisformationen. Endlich konnten wir die ersten Schritte auf
dem beschwerlichen Weg zur Verwirklichung unseres so lange gehegten Traums in Angriff nehmen.
Unsere Steigeisen bissen sich bei jedem Schritt fest in die spiegelglatte Oberfläche des Gletschereises, während wir uns langsam unseren Weg durch dieses Eislabyrinth bahnten. Es fühlte sich gut an. Als
der Anstieg zunehmend steiler wurde, mussten wir uns zur Sicherheit
mit dem Karabiner unseres Expresssets ins Fixseil einklinken. Vor uns und bis weit hinauf zum Horizont türmten sich meterhohe Eisformationen auf, die von hier unten, aus der Ferne betrachtet, wie riesige
Eisskulpturen aussahen.
Wir brauchten immer ein paar kräftige Kletterzüge, bis wir uns
von einem Eisvorsprung zum nächsten gehangelt und darüber hinweg
gekraxelt waren; danach haben wir uns jedes Mal ausgestreckt hingelegt, um uns schwer atmend in der immer dünner werdenden Luft
auszuruhen.
Schon bald konnten wir unten im Tal das Basislager sehen, wie es
immer kleiner wurde, je höher wir aufstiegen.
In den ersten Stunden, in denen wir zusammen in der frühen
Morgendämmerung dort oben geklettert sind, schoss das Adrenalin
nur so durch unsere Adern.
Ein vertrautes Gefühl, das wir sehr gut kannten, auch wenn wir
diesen Berg überhaupt nicht kannten.
Nach kurzer Zeit hatten wir die ersten Aluminiumleitern erreicht,
die quasi als Brücke über den gähnenden Abgrund zwischen den unzähligen Gletscherspalten und senkrechten Abbrüchen gespannt waren. Dieses Leitersystem war vor Saisonbeginn von den Sherpas sehr
aufwendig mit unzähligen Fixseilen, Pfählen und Eisschrauben gesichert worden, um so eine Überquerung der extrem tiefen Gletscherspalten zu ermöglichen.
Im Laufe der Jahre haben sich diese leichten Aluminiumleitern -
sie müssen regelmäßig alle paar Tage aufgrund des relativ schnell fließenden Gletschereises neu fixiert und justiert werden - als die absolut
effektivste Methode für eine erfolgreiche Durchsteigung des Khumbu-Eisbruchs erwiesen.
Allerdings kostet ein solcher Balanceakt anfangs schon ziemlich
große Überwindung.
Denn Steigeisen, schmale Metallsprossen und Eis sind eine gefährliche Kombination. Man muss sich einfach Zeit lassen, die Nerven behalten und sich immer nur auf die nächste Sprosse konzentrieren - eine nach der anderen. Und vor allem sollte man eins beherzigen: Bloß nicht hinunterschauen in die schwarze gähnende Tiefe, die
sich unter einem auftut.
Man darf sich immer nur auf seine Schritte konzentrieren, nie darauf, wie tief es hinunter geht.
Das ist allerdings sehr viel leichter gesagt, als getan.
Nur ungefähr 30 Meter unterhalb von Lager 1 war das von den
Sherpas so sorgfältig mit Fixseilen gesicherte Leitersystem durch die
ständige Gletscherbewegung auseinandergebrochen. Und das, was
von den Leitern und Seilen noch übrig war, baumelte wie an langen
Bindfäden über dem
Weitere Kostenlose Bücher